Der Mensch – ein Auslaufmodell?
Michael E. Zimmerman wirft einen philosophischen Blick auf den Transhumanismus
Zum Thema Ausgabe 03 von evolve: „Maschinen meditieren nicht – Unsere Zukunft zwischen Geist und Technik“
Seit Dezember 2012 ist Ray Kurzweil „Director of Engineering“ bei Google. Kurzweil ist als einer der Vordenker der transhumanistischen Bewegung bekannt, für die die Zukunft jenseits des Menschen liegt – wie wir ihn heute kennen. In diesem Artikel beschreibt der integrale Philosoph Michael E. Zimmerman die philosophischen und religiösen Wurzeln des Transhumanismus und erklärt, warum wir uns mit dieser Bewegung auseinandersetzen sollten.
Seit einigen Jahren befasse ich mich mit dem, was Ray Kurzweil und andere als „Singularität“ bezeichnen, diesem Moment in der Mitte des 21. Jahrhunderts, wenn künstliche Intelligenz so weit entwickelt wurde, dass sie die menschliche Intelligenz übersteigt. An diesem Punkt wird diese künstliche Intelligenz beginnen, sich selbst umzugestalten und dadurch in kurzer Zeit Millionen Mal intelligenter als die Menschen werden. Die Singularität in der Astrophysik bezeichnet ein schwarzes Loch, aus dem keine Informationen mehr entkommen können, weil die Kraft des Gravitationsfeldes des kollabierten Sterns zu groß ist. Die Version der Singularität in Bezug auf die künstliche Intelligenz beschreibt die Annahme, dass Absichten und Erfahrungen der super-posthumanen Intelligenz im großen Ausmaß dem Menschen nicht mehr zugänglich sind. Dem Menschen bleibt nur noch, sich über diese erstaunliche Wendung der kosmischen Evolution zu wundern.
Das integrale Denken legt einen großen Wert auf das Verstehen der kosmischen und menschlichen Entwicklung. Deshalb sollten wir die Idee ernst nehmen, dass ein vom Menschen hervorgebrachter Artefakt die Menschheit selbst dramatisch übersteigen könnte.
Im Zusammenhang mit dieser Singularität stellen sich sofort viele Fragen. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie eintreten wird? Und wenn sie eintritt, was wären die Konsequenzen für die Menschheit? (Denken wir nur an all diese düsteren Science-Fiction-Visionen in den letzten Jahrzehnten, die beschreiben, dass eine außer Kontrolle geratene künstliche Intelligenz nicht besonders freundlich mit uns umgehen wird.) Ist die Singularität nur eine weitere Fantasie männlicher Nerds, die keine Beziehung zu gewöhnlichen Sterblichen – insbesondere Frauen – entwickeln können? Bieten die Wortführer der Singularität eine besondere Version des selbstherrlichen, todesleugnenden Projektes, bei dem es darum geht, die Rolle Gottes zu übernehmen – ein Projekt, das geholfen hat, die Moderne zu formen? Werden wir „zurückgelassen“ werden, wenn der Geist eine andere Form der „Entrückung“ durchläuft, als die, von der die evangelikalen Prediger sprechen? In welchem Maße kann die Diskussion im Zusammenhang mit der Singularität, in der die Menschheit als eine Übergangsstufe in der Entwicklung eines Über-Bewusstseins gesehen wird, mit dem integralen Diskurs verbunden werden? Im integralen Diskurs wird der Geist als etwas gesehen, das sich in der Menschheit entwickelt. Im Folgenden fokussiere ich mich auf diese letzte Frage, in der es um die möglichen Überschneidungen zwischen dem Verständnis der Evolution des Geistes im Diskurs der Singularität und im integralen Denken geht.
Nietzsche und der Posthumanismus
Bevor wir damit beginnen, müssen wir einige Unterscheidungen etablieren. Im Diskurs der Singularität wird mit dem Begriff „Transhumanismus“ vom Menschen als einem Wesen im Übergang gesprochen. Das bedeutet, dass diejenigen unter uns, die für sich selbst oder ihre Nachkommen diese technischen und genetischen Verbesserungen annehmen, mit einem bedeutend längeren Leben, mit größerer Intelligenz, sportlichen Fähigkeiten, gutem Aussehen, ästhetischem Geschmack und sogar moralischer Sensibilität ausgestattet werden. Wie sinnvoll solche Ziele für den Einzelnen sein mögen, der oder die sie sich setzt, die sozialen Implikationen sind enorm. Dazu gehört eine mögliche neue vielschichtige Klassenstruktur von Menschen, die „super-verbessert“, „teil-verbessert“ und „natürlich“ sind. Aber im Sinne der Singularität ist die Entwicklung verbesserter Menschen nur ein vorübergehendes Ziel. Das letztendliche Ziel ist etwas, das ich als „Techno-Posthumanismus“ bezeichne. Das bezieht sich auf eine unvorstellbar fortgeschrittene künstliche Intelligenz, die in einem Substrat (Silizium?) verkörpert ist, wodurch eine virtuelle Unsterblichkeit möglich sein wird. Ray Kurzweil, Multimillionär, Erfinder und Autor des wichtigsten Buches dieser Bewegung The Singularity is Near ist der Ansicht, dass der Zusammenfluss der künstlichen Intelligenz, der Robotik, der Gentechnik und Nanotechnologie zu einer exponentiellen Zunahme des Wissens und technischen Know-hows führen wird, wodurch die Singularität um das Jahr 2050 möglich sein könnte.
Ein großer Anteil der Transhumanisten und Techno-Posthumanisten sind Atheisten, weit entwickelte Modernisten mit einer liberalen Gesinnung. Oft nennen sie Friedrich Nietzsche als einen ihrer berühmten Vorgänger. Schließlich ließ er seinen Zarathustra (Vorrede 4) Folgendes sagen: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde. … Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“ Wahrscheinlich meinte Zarathustra mit seinem Übermenschen nicht die Techno-Postmenschlichkeit, sondern vielmehr eine Wandlung des natürlichen Menschseins. Trotzdem inspiriert Nietzsches Ausruf „Gott ist tot“ – der mythische Gott ist also nicht mehr glaubwürdig – einige Techno-Posthumanisten. Sie wollen neue Götter schaffen, die mit solch Ehrfurcht gebietenden Kräften ausgestattet sind, dass sie so etwas wie Verehrung verdienen würden. Nicht alle Vertreter der Singularität stehen hinter diesen Ideen, für einige von ihnen sind sie zu sehr mit den Glaubenssätzen einer lang vergangenen Zeit verbunden.
Technologie als spirituelle Suche
Aber Kurzweil spricht ganz explizit über Gott, um das Schicksal der Wesen zu beschreiben, die in der Singularität entstehen werden. Hier eröffnet sich eine Möglichkeit für einen Dialog zwischen den Ideen der Singularität und dem integralen Denken. In seiner atemberaubenden Vision der Zukunft nach der Singularität behauptet Kurzweil, dass unsere posthumanen Nachfahren in der Lage sein werden, das ganze Universum nach ihren eigenen Vorstellungen neu zu gestalten. In der Tat werden diese posthumanen Wesen schließlich alles im Universum „vergeistigen“, einschließlich der angeblich „dummen“ Materie/Energie. Solch ein vollkommen erwachtes, bewusstes und zutiefst intelligentes Universum wäre ein „großer, transzendenter Geist“. Kurzweil gibt zu, „dass dies Gott so nahe kommt, wie ich es mir nur vorstellen kann“. Natürlich wird dabei die konventionelle Sicht Gottes als das transzendente Andere überschritten (transzendiert und eingeschlossen?). Kurzweil formuliert die Vision eines Gottes, der sich im Prozess der Entwicklung zu vollkommener Selbstverwirklichung befindet. In The Singularity is Near schreibt er:
„Die Evolution bewegt sich zu größerer Komplexität, umfassender Schönheit, tieferem Wissen, größerer Eleganz, Kreativität und Liebe. All diese Bezeichnungen wurden auch für Gott verwendet, wobei Gott als grenzenlos in all diesen Eigenschaften gesehen wurde. … Die Evolution erreicht solch eine grenzenlose Ebene nicht, aber während sie sich exponentiell ausbreitet, bewegt sie sich ganz sicher in diese Richtung. … Somit könnte man die Befreiung unseres Denkens von den Begrenzungen unserer biologischen Form im Grunde als eine spirituelle Suche bezeichnen.
Die Menschheit dient vielleicht als Brücke ins Gelobte Land, aber unsere posthumanen Nachkommen müssen diese Reise für uns weiterführen. Wahrscheinlich werden sie etwas erfahren, auf das Paulus nur hoffen konnte: ‚denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ (Römer 8: 21.)’“
Menschwerdung Gottes
Wenn die Singularität entstehen sollte, würde sie durch die Wissenschaft und Technologie ermöglicht werden. Aber den Impetus dahinter bilden lang bestehende mythische, religiöse und philosophische Themen. Die christliche Theologie zum Beispiel half bei der Bildung der Grundlagen, auf die man Kurzweils Idee des Geistes beziehen muss. Martin Luther war der Ansicht, dass Gott durch uns als eine innere Kraft wirkt, die den Menschen verwandelt, der auf dem Wort Gottes in der Heiligen Schrift vertraut. Durch den Glauben, den uns die Gnade ermöglicht, werden wir in Gott neu geboren, denn Gott wohnt in uns. Luther bezog sich auf den mittelalterlichen Theologen Athanasius: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werden kann.“ Das Innewohnen Gottes in uns bedeutet nicht, dass wir eine Art Halbgott werden, vielmehr wird Gott zu unserer inneren Ausrichtung, zu unserem Gewissen. Aber Luthers Ideen wurden auch anders benutzt, wie wir gleich sehen werden.
Zur Zeit Luthers stand in Italien die Renaissance in voller Blüte. Ein grundlegender philosophischer Aspekt dieser kulturellen Transformation bestand darin, dass Menschen – anders als Tiere – nicht mit einer vorbestehenden göttlichen Form ausgestattet sind. Mit anderen Worten, es gibt keine vorbestimmte menschliche Natur. Bewaffnet mit dieser Idee behaupteten die Humanisten der Renaissance, dass der sich selbst bestimmende individuelle Mensch im Zentrum der Dinge steht. Für diese Humanisten kann der Mensch gottähnlich werden. Dazu gehörte aber meist eine Bewegung nach innen, zum Geist, und weniger eine Bewegung nach außen, zur Umgestaltung der Natur. Viele Denker der Renaissance waren von der Hermetik beeinflusst, die in einigen Versionen davon ausgeht, dass Gott dem Menschen die Gnosis schenkt, damit der Mensch die Meisterschaft über die Natur erlangen kann. Wenn es keine festgelegte menschliche Natur (Form) gibt, dann ist es vielleicht gar nicht blasphemisch, wenn die Menschheit sich entscheidet, sich selbst umzugestalten, wie es die Posthumanisten der Singularität vorschlagen.
Wichtige deutsche Philosophen wie Hegel entwickelten die Ideen Luthers und der Hermetik weiter und halfen damit, die Grundlagen der Moderne zu formen. Hegel selbst studierte in einem lutherischen Stift und interpretierte den Tod des Gottmenschen Jesus Christus so, dass sich der transzendente Gott vollkommen in den Menschen hineingegeben hat. Der mythische, jenseitige Gott war gestorben. Deshalb wird die Evolution des Geistes in der Geschichte der Menschheit verwirklicht werden – in dem Streben des Menschen nach vollkommenem Bewusstsein seiner selbst, nach Freiheit und Individualität. Nach Ansicht von Hegel sind die Menschen im Grunde der Geist des Kosmos; wir sind der Geist, der sich in der Geschichte entwickelt. Hegels Werk prägte durch die Vermittlung Ludwig Feuerbachs entscheidend die Weltsicht von Karl Marx. Marx ging davon aus, dass die Menschheit einen gottgleichen Status erlangen könnte, indem sie ein außergewöhnliches Neues Jerusalem begründen würde, in dem alle technischen und menschlichen Fähigkeiten voll entwickelt werden.
Transzendenz im Kosmos
Im Gegensatz zu Marx und anderen Vertretern der Moderne glauben die Vordenker der Singularität, dass der Mensch zu sehr von seinem gebrechlichen natürlichen Substrat abhängig ist, um den Sprung in eine viel größere Seinsweise zu tun. Kurzweil ist der Ansicht, dass „die Befreiung des menschlichen Geistes von seinen engen körperlichen Begrenzungen des Umfangs und der Dauer der nächste Schritt der Evolution ist. Ich sehe die Evolution als den Sinn des Lebens. Das bedeutet, dass der Sinn des Lebens – und unseres Lebens – darin besteht, zu evolvieren.“ Zudem behauptet Kurzweil, dass die Transzendenz überall wirksam sei. „Transzendieren bedeutet ‚über etwas hinausgehen’, aber das muss uns nicht zur Annahme einer blumigen Vorstellung führen, in der transzendente Ebenen der Wirklichkeit (zum Beispiel die spirituelle Ebene) nicht von dieser Welt sind. … Ich würde mich nicht als Materialist bezeichnen, sondern als ‚Patternist’ (vom englischen Wort pattern, Muster). Wir transzendieren durch die emergierende Kraft der Muster.“ Offensichtlich geht Kurzweil davon aus, dass die Transzendenz nun in den Kosmos hineingebracht wurde, wodurch eine Wegstrecke der Reise zurückgelegt wurde, um etwas hervorzubringen, was den Namen „Gott“ verdient.
Wie integrale Denker ist auch Kurzweil der Ansicht, dass religiöse Traditionen nicht mehr tragfähig sind, „denn sie versuchten transzendente Ideen in einer Sprache zu formulieren, die dafür kaum geschaffen war. Heute ist es angemessen, wenn wir nicht die Wahrheiten selbst, aber die Ausdrucksformen dieser Wahrheiten auf den neuesten Stand bringen, indem wir diese Wahrheiten mit dem sich entwickelnden Verstehen der Welt, in der wir leben, verbinden.“ Kurzweil geht also davon aus, dass „Gott“ weiterhin eine entscheidende Rolle im Selbstverständnis des Westens spielt. In der Tat, nur durch die Wahrnehmung des Universums in einer Evolution zu allumfassender gottgleicher Macht, die die gesamte Materie „vergeistigen“ kann, ist Kurzweil in der Lage, die Großartigkeit und Bedeutung der Aufgabe und Möglichkeit der Menschheit in diesem entscheidenden Moment der Geschichte hervorzuheben. Wenn das Leben im Universum so selten ist, wie viele annehmen, und wenn selbst-bewusstes Leben einzigartig sein sollte, dann gibt es gute Gründe dafür, dieses Selbst-Bewusstsein in einer dauerhafteren und viel kraftvolleren Modalität zu erhalten.
Für diejenigen, die mit der integralen Theorie vertraut sind, spricht Kurzweil ein bekanntes Thema an: Der mythische Gott ist nicht mehr zeitgemäß, aber wir können Gott als den in uns wirksamen Impuls neu definieren, der die Menschheit zur Weiterentwicklung bewegt. Aber im Gegensatz zu den meisten integralen Denkern glaubt Kurzweil, dass die Evolution kurz davor steht, einen weiteren großen Schritt zu tun, mit dem wir Menschen die Fackel der Evolution an Wesen weitergeben, die wir geschaffen haben, die sich aber schnell über uns hinaus entwickeln werden. Ob das geschehen wird oder nicht, wir sollten über diese Möglichkeit nachdenken – und wir sollten darüber nachdenken, dass das Interesse an dieser Möglichkeit wächst.
Michael E. Zimmerman ist Professor für Philosophie an der University of Colorado in Boulder und Ko-Autor des soeben in Deutsch erschienen Buches Integrale Ökologie. Er beschäftigte sich intensiv mit der Philosophie Martin Heideggers, mit Tiefenökologie und der integralen Theorie Ken Wilbers.