In evolve 06 mit dem Titel “Wir-Räume: Die Transformation unserer Beziehungen” beschäftigen wir uns auch intensiv mit dem Verhältnis zwischen Ich und Wir, individueller und intersubjektiver Entwicklung. In der Ausgabe 2 von evolve hat der Philosoph Maik Hosang zu diesem Thema eine Kolumne geschrieben:
Vom Ego zum Wir zum …?
Maik Hosang
„Vom Ich zum Wir“ lautet eine immer öfter zu hörende Forderung der Gegenwart. Sie ist zweifellos relevant für unsere Zeit, in der Milliarden mehr oder weniger isolierter Egos die Wunder der Erde zunehmend für ihre Status- und Luxusbedürfnisse vernutzen. Doch genügt dieses Motto, um kreative „Tathandlungen“ (J. G. Fichte) für eine neue, nachhaltige oder integrale Evolution von Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zu inspirieren?
Nachdem ich ca. 20 Jahre lang beim Aufbau einer Gemeinschaft, des LebensGuts Pommritz, mitwirkte, komme ich mehr und mehr zu dem Schluss, dass dieses „Wir“ zwar wichtig, doch unzureichend ist für die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zukunft. Was ich kürzlich im Newsletter von Auroville-Deutschland las, hätte ich auch für Pommritz schreiben können (Auroville ist ein Gemeinschaftsprojekt in Indien, das auf den indischen Mystiker Sri Aurobindo zurückgeht.): „Auroville ist kein Zentrum der Innovation mehr …Vor 20 Jahren waren wir am Puls der Zeit, aber wir haben es verloren, weil wir uns zu sehr in unserer eigenen kleinen Sache verfangen haben … Wir haben ein System kreiert, um ein paar schlechte Äpfel zu kontrollieren, aber tatsächlich sollte es anders herum sein; wir sollten versuchen, Menschen zu ermutigen …“
Anhand von Spiral Dynamics oder ähnlichen Stufenbildern kultureller Entwicklung lassen sich manche dieser Probleme durchaus verstehen: Aus der Sinnleere, Frustration und Depression des Ego-Ich tendiert man oft zum Zurück ins präpersonale „Wir“ – statt zum weiteren seelischen Wachsen ins „transpersonale Selbst“, das universelles Mitgefühl mit individueller Kompetenz, Kreativität und Initiative verbindet. Anders ausgedrückt: Schauen wir wachen Auges in die Zentren moderner Kultur, ob nach New York, Paris oder Berlin, so fällt auf, dass dort keineswegs allzu viele wirklich souveräne Individuen herumlaufen. Im Gegenteil, diese Orte erscheinen wie große Sammelbecken zwar neuer, doch meist noch immer gruppenorientierter Kulturen: „Man“ ist Teil von Szenen und pflegt deren Rituale, die selbst noch in künstlertypischer Unangepasstheit oft nur ein Spiegel von Gruppennormen ist. In Zuge meiner Vorlesungen zur Kulturphilosophie, die ich für Studenten der Hochschule Zittau/Görlitz gebe, wurde mir bewusst, dass wir in unserer Kultur von den drei großen Grundwerten bisher erst zwei mehr oder weniger erkannt und realisiert haben: Das Wahre und das Gute. Das Schöne jedoch ist bisher weitgehend unerschlossen. Daran hat auch die ca. 250 Jahre junge und trotz vieler Diskussionen bisher kaum ihrer selbst bewusste „Ästhetik“ wenig geändert. Ästhetik wurde im 18. Jahrhundert als dritter Philosophie- oder Geistbereich eingeführt – neben der „Erkenntnis“-vermittelnden Wissenschaft und der „Wir-Kompetenz“-vermittelnden Ethik. Meiner Ansicht nach stehen wir heute vor der Aufgabe, der ästhetischen Weltwahrnehmung und „Weltwahrgebung“ einen tieferen Sinn zu verleihen, der sehr viel mit unserer Individuation zu tun hat. Denn eine ästhetische Empfindsamkeit erblüht nicht im Ego-haften und auch nur selten im Wir-haften, sondern so richtig nur im universell-mitfühlenden, sehnsuchtsvoll-kreativen und intensiv-lebendigen Ich-Selbst-Sein menschlicher Individuen und Teams. Der Sinn von Ästhetik wäre dann dieser: In uns Menschen eine sinnlich-sinnhafte Kompetenz dafür reifen zu lassen, wie wir uns als mit Seele, Leib und Geist begabte Wesen und Akteure der Evolution optimal entfalten können.
Wenn wir ein neues „Wir“ brauchen, dann kein ich-loses, sondern ein „ich-freies“ (J. Gebser); und so eher eine „Assoziation freier Individuen“ (K. Marx), die wissen und fühlen, aber auch ersehnen und wollen, dass nur in und mit ihnen und durch sie die Evolution neue Schritte gehen kann. Die innere Freude dieses intensiveren Selbst-Seins strahlt dann nach außen hin als das, was wir Schönheit nennen: Die Wahrnehmung und Wahrgebung der ganzen Schöpfung oder Evolution im einzigartigen, individuellen Moment.
Prof. Dr. Maik Hosang studierte Philosophie, Psychologie und Anthropologie und gründete mit Rudolf Bahro 1990 in Berlin das Institut für Sozialökologie, aus dem das LebensGut Pommritz entstand.
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