Die Spirituelle Herbstakademie 2017
Mike Kauschke
America first, Brexit, AFD im Bundestag – an vielen Orten der Welt wird gegenwärtig damit gerungen, wie offen Gesellschaften sein und wie frei sie sich mit dem Weltgeschehen verbinden können. Die Komplexität der Herausforderungen, vor denen die Welt steht, scheint mancherorts Rückzugsbewegungen zu begünstigen. Andererseits gibt es auch Bewegungen des Aufbruchs, die nach neuen und tieferen Verbindungen suchen. In diesem Sinne widmete sich die Spirituelle Herbstakademie Frankfurt in diesem Jahr dem Thema „Die Würde der offenen Gesellschaft“. Nach zehn Akademien im Raum Frankfurt fand diese elfte Akademie an der Alanus Hochschule in Alfter statt. Nachdem in den vergangenen Jahren bereits eine inhaltliche Zusammenarbeit mit Lehrenden der Hochschule im Rahmen der Herbstakademie gewachsen war, wurde die diesjährige Akademie über mehrere Monate gemeinsam vom Team der Herbstakademie, Alanus-Professoren und Studierenden vorbereitet. In der Alanus Hochschule werden wissenschaftliche Fachgebiete wie Pädagogik oder Wirtschaft mit künstlerischen Fächern verbunden. Und so hatte auch die Kunst bei dieser Akademie einen großen Einfluss, um das politisch geprägte Thema in anderen Perspektiven beleuchten zu können.
Mit der „Würde der offenen Gesellschaft“ wollte sich diese Akademie in die Mitte eines notwendigen gesellschaftlichen Dialoges stellen. Was bedeutet in einer Zeit, in der populistische Bewegungen in der ganzen Welt und mit dem Ergebnis der Bundestagswahl explizit auch bei uns starken Zulauf haben, eine „offene Gesellschaft“? Welche Erneuerungsimpulse braucht unsere Demokratie? Welche Rolle spielt dabei eine spirituelle Perspektive auf den Menschen und die Welt? Was ist unsere Verantwortung als Einzelne in dieser Zeit?
Solche Fragen standen am Beginn dieser Akademie und durchwirkten sie während der drei Tage. Sie begann mit einer Einführung zum Thema mit Prof. Dr. Jost Schieren, der an der Alanus Hochschule Bildungswissenschaft unterrichtet, und den Initiatoren der Herbstakademie Sonja Student von der DIA, Der Integralen Akademie, Dr. Jens Heisterkamp von der Zeitschrift info3 und Dr. Thomas Steininger vom Magazin evolve. In dem Gespräch wurde die Würde einer offenen Gesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. In der Einführung klang bereits die menschliche Tiefe an, nach der die offene Gesellschaft fragt. Der Auftakt spannte einen inhaltlichen Bogen von der Sakralität der Person, die weiter reicht als die schlichte Anerkennung der Menschenrechte, über die Frage, wie tiefere Verbundenheit und menschliches Miteinander gerade in Zeiten der Herausforderung bewusst kultiviert werden können, bis hin zu den notwendigen Bildungsimpulsen, die den Wert demokratischer Gesellschaften nicht nur im Politischen setzen, sondern auch als Lebenspraxis gestaltbar machen.
Es folgten Dialoge in kleineren Gruppen und ein Fishbowl-Dialog. Diese Sequenz von dialogischem Input, kleineren Dialogen und einem Fishbowl-Dialog bildete die Grundstruktur der ganzen Tagung und schuf einen kontinuierlichen dialogischen Raum, der sich in den Pausen und beim Essen fortsetzte.
Die erste Fishbowl nahm eine (für die meisten) unerwartete Wendung, als der Schauspielstudent Florian Hausen in einer künstlerischen Intervention den Dialog hinterfragte (man könnte auch sagen, gehörig „aufmischte“). In der Rolle eines unzufriedenen, gewaltbereiten Rebellen rief er den Teilnehmern zu, dass sie nur reden und nichts tun würden. Diese Intervention hatte auf alle Anwesenden eine nachhaltige Wirkung, obwohl sich schnell offenbarte, dass es ein „invasiver“ künstlerischer Beitrag war. Das weitere Gespräch bestimmte eine Reflexion darüber, was unser gestaltender Beitrag in und für eine offene Gesellschaft sein könnte. Wie kann man in einer offenen Gesellschaft mit (verbaler) Gewalt und ihren Ursachen umgehen? Inwieweit kann oder muss eine offene Gesellschaft geschützt werden? Welchen Wert haben geschützte Räume wie diese Akademie für den Umgang mit handfesten gesellschaftlichen Konflikten und der Wut, die in ihnen bisweilen aufkeimt?
Die Rolle von offenen Dialogräumen für eine offene Gesellschaft war ein Thema des Beitrags des jungen Friedens- und Dialogforschers Vincenz Lüps zum „Dialog als gesellschaftliche Praxis“. Im Gespräch mit Thomas Steininger wurden die Haltungen thematisiert, die einen echten Dialog möglich machen, beispielsweise die Anerkennung und das Sich-Einlassen auf ein „Du“. Lüps hatte die Gelegenheit, dieses Sich-Einlassen bei einer Reise durch Deutschland im Rahmen eines Dokumentarfilms zu üben, bei dem er auch mit NPD-Anhängern und Rechtspopulisten ins Gespräch kam. Am Ende dieses Beitrags wurde klar, dass Dialoge und dialogische Räume eigentlich die Basis einer demokratischen Kultur bilden und dass unsere Krise der Demokratie vielleicht auch mit dem Fehlen solcher Räume und einer mangelnden Wertschätzung dafür zu tun hat.
Über die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der Demokratie sprach Marina Weisband in ihrem Gespräch mit Nadja Rosmann, Redakteurin bei evolve und im Vorbereitungsteam der Herbstakademie. Marina Weisband, die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, engagiert sich heute in einem Projekt für Liquide Demokratie an Schulen. Fundiert und mit einer tiefen Wertschätzung für die demokratische Kultur sprach sie aus ihrer Sicht über die Schwachpunkte unserer Demokratie und wie man diesen begegnen kann. Dabei spürte man ihre langjährige Erfahrung im Diskurs über eine Erneuerung der Demokratie, die für sie im Grunde in einer Verbindung von repräsentativer und direkter Demokratie liegt. Die liquide Demokratie will diese Verbindung schaffen, indem sie Menschen unmittelbarer in politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbindet. Spürbar wurde bei Weisbands Ausführungen, dass Demokratie für sie auf dem Vertrauen in den Menschen beruht. Und auf dem Vertrauen in dialogische Entscheidungsprozesse. Sie gab ein beeindruckendes Beispiel einer Schule in Hamburg mit mehrheitlich muslimischen Schülern, mit der sie in ihrem Projekt arbeitet. Diese Schüler brachten die Idee ein, einen Gebetsraum zu schaffen. In einem dialogischen Prozess wurde klar, dass der Raum aber für alle Schüler da sein müsste, und deshalb einigten sich die Schüler auf einen Raum der Stille, in dem man beten, meditieren oder einfach nur in Ruhe nachdenken kann. Mit einem Mehrheitsvotum wäre es hingegen „nur“ ein Gebetsraum geworden.
Den thematischen Schlusspunkt der Akademie setzte ein Gespräch zwischen Jens Heisterkamp, dem Chefredakteur von info3, und Adrian Wagner, der bei der Europäischen Kommission in Brüssel arbeitete. Er konnte aus eigner Erfahrung und Überlegung die Dimension der offenen Gesellschaft auf europäischer Ebene beleuchten. Besonders wichtig war ihm die Wiederverbindung mit der Vision eines geeinten Europa, die jenseits der Bürokratie aus dem tiefen Impuls der Vereinigung und Überwindung nationalstaatlicher Trennung und der damit verbundenen Konflikte erwächst. Wagner bezog sich dabei auch auf den Begriff eines „Geheimen Europa“, in dem Menschen diese innere, spirituelle Dimension der europäischen Idee mitempfunden haben, die heute nach seiner Ansicht wieder dringend Raum braucht. Nur so kann Europa von innen her lebendig werden und bleiben. Am Ende stand die Frage im Raum, wie jeder Einzelne zu dieser Wiederbelebung einer Vision von Europa beitragen kann.
Eine Antwort auf die vielen Fragen, die die Herbstakademie stellte, war der Dialog. Er zog sich methodisch durch die Konferenz, und es zeigte sich immer wieder deutlich, dass dieses dialogische Miteinander eine zutiefst demokratische und demokratiefördernde Methode, mehr noch Lebenshaltung ist. Belebt wurde dieser Dialog vor allem dadurch, dass auch einige Studenten der Hochschule an der Herbstakademie teilnahmen und ihre frischen und lebendigen Perspektiven und Fragen einbrachten. Hinzu kommt die Erweiterung unseres Seins in verkörperte und künstlerische Weltwahrnehmung. Diese Dimensionen hatten in dieser Herbstakademie viel Raum. Es gab eine Aufführung von Schauspiel- und Eurythmiestudenten, eine Theateraufführung eines „Forum-Theaters“, bei dem die Zuschauer zu „Zuspielern“ wurden und Lösungen für einen Konflikt erproben konnten. Eine Klangperformance, die Ausstellung von Gemälden und künstlerische Wahrnehmungsübungen im Körper bezogen weitere Wahrnehmungs- und Daseinsperspektiven ein. Begleitet wurde all das von den Gedanken, die sich während der gesamten Veranstaltung ausdrucksstark auf den Fensterscheiben des Raumes manifestierten und Impulse der Dialoge im Raum hielten.
Was mich an dieser Herbstakademie am stärksten beeindruckt hat, war der Zwischenraum, der durch diese dialogische Form des Konferenzsettings entstand: Der Raum zwischen dem Fokus auf politische und gesellschaftliche Fragen und der eigenen und gemeinsamen inneren Haltung. Zwischen Innerlichkeit und Wirken in der Welt, könnte man sagen. Aber auch der Raum zwischen intellektueller Durchdringung und künstlerischem Ausdruck und gespürter Verkörperung. Und vor allem der menschliche Raum zwischen den Teilnehmern, der sich über diese zwei Tage entfalten konnte, und von Interesse, Intelligenz, Verletzlichkeit und Wertschätzung geprägt war. Im Keim zeigt sich darin vielleicht schon ein Impuls zur Erweiterung unseres Verständnisses des Menschen und damit auch der Demokratie. Eine offene Gesellschaft, deren Würde aus der Offenheit für den Anderen und die Wirklichkeit in all ihrer Vielschichtigkeit schöpft.