Gott ist Liebe
Über Navid Kermanis neues Buch „Ungläubiges Staunen“
Mike Kauschke
Im Oktober hat Navid Kermani den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten, die wohl bedeutendste Auszeichnung für einen Kulturschaffenden in Deutschland. Besser hätte die Wahl gerade zu einer Zeit, wo so viele Flüchtlinge aus islamischen Staaten zu uns kommen, wohl nicht sein können. Denn wie nur wenige tritt Kermani, Sohn iranischer Einwanderer, für einen aufgeklärten und traditionsbewussten Dialog zwischen islamischer und christlich-abendländischer Tradition ein. Wichtig ist ihm dabei auch ein Dialog zwischen rationalem Verstehen und mystischer Ahnung oder Erfahrung. Er selbst fühlt sich der islamischen Mystik tief verbunden, und sie prägt auch seinen Blick auf das Christentum, wie er ihn in seinem neuen Buch „Ungläubiges Staunen“ beschreibt.
Von Albert Einstein gibt es ein wunderbares Zitat über das Staunen: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“ In seinem neuen Buch verleiht Navid Kermani dieser Einsicht Wahrhaftigkeit. Er, der Schriftsteller, Muslim und Orientalist nähert sich staunend, zärtlich, erschrocken, liebend, fragend dem Christentum. Nicht im Sinne eines wohlwollenden interreligiösen Dialoges, sondern eher so wie man einem geliebten Menschen begegnet, von dem man weiß, dass man ein gemeinsames Schicksal teilt, sich zutiefst angezogen fühlt, aber manchmal auch vom Andersein des Anderen erschüttert wird.
Kermani nähert sich dem Christentum vor allem in der Aura der Schönheit. In „Ungläubiges Staunen“ betrachtet er Kunstwerke mit christlichem Inhalt. Aber er interpretiert sie nicht, er befragt sie, fühlt ihnen nach, lebt in sie hinein. Beim Lesen lernt man so auf neue Weise sehen, staunend sehen. Nicht gefangen in Vorannahmen und Gewusstem, sondern eingelassen auf das, was man sieht. Dieser Blick ist nicht naiv, denn in Kermanis Texten klingt immer wieder durch, dass er sich eingehend mit christlicher Theologie beschäftigt hat. Aber er kann dieses Wissen im Hintergrund lassen und sich dafür öffnen, wie die jeweiligen Künstler die Menschen und Ereignisse der christlichen Tradition für sich erfahren haben, unter ihnen Caravaggio, Rembrandt oder Dürer.
Auf diese Weise betrachtet Kermani Grundelemente des Christentums, wie Kreuz, Auferstehung oder Liebe, er folgt einigen Personen der Tradition wie Hiob, Ursula oder Franziskus und nähert sich der Beziehung des Menschen zu Gott in Gebet, Berufung oder Wissen. Dabei lässt er sich auch immer wieder verstören oder verwandeln. Wie zum Beispiel in seiner Auseindersetzung mit dem Kreuz: „Weil ich ernst nehme was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundweg ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, ein Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir genießen sollen, auf dass wir den Schöpfer erkennen …“ Kermani spart also auch nicht mit Kritik, aber als er das Kreuz des Künstlers Karl Schlammiger sieht, das aus Stahlstreifen besteht, die in Form einer Doppelhelix in Spiralen verlaufen, wird für ihn das Symbol des Leidens zu einem Träger pulsierend-energetischen Lebens, das den Raum verwandelt.
Diese Haltung wird im ganzen Buch immer wieder spürbar: Kermani ist in seiner islamischen sufistischen Tradition verwurzelt, lässt sich aber immer wieder auch vom Christentum begeistern. Zum Beispiel wenn er sagt:„Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder vielleicht sollte ich sagen: an den Christen, deren Glauben mich mehr als nur überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur auch für mich, ist es die Liebe, insofern sie sich nicht nur auf den Nächsten bezieht. In anderen Religionen wird ebenfalls geliebt, es wird zur Barmherzigkeit, zur Nachsicht, zur Mildtätigkeit angehalten. Aber die Liebe, die ich bei vielen Christen und am häufigsten bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben, den Mönchen und Nonnen, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe macht keinen Unterschied.“
Ein Beispiel für solch einen Christen ist Pater Paolo Dall’Oglio, der in Syrien ein verlassenes Kloster zu einem Begegnungsort von Christen und Muslimen machte. Kermani schreibt bewegend über den Pater, der von einer tiefen Liebe zum Islam bewegt ist. Heute, da Syrien im Krieg zermürbt wird und so viele Syrier zu uns kommen, ist die Begegnung zwischen Christentum und Islam, die er lebt, wie ein Vermächtnis und eine Hoffnung: „Pater Paolo verkörperte die Utopie, die Syrien sein konnte, an manchen Orten, zu manchen Zeiten sogar war. Wahrscheinlich gibt es keinen Christen auf der Welt, der sich mehr für Muslime eingesetzt, ihnen mit größerer Loyalität, tieferem Verständnis und auch genauerer Kenntnis des Korans begegnet wäre als ihn. Ich wüsste nicht einmal, welcher Muslim die Botschaft des Korans überzeugender und glaubwürdiger vertrat als er.“ Pater Paolo wurde 2013 vom sogenannten Islamischen Staat entführt, als er Freunden helfen wollte, Verwandte, die der IS als Geiseln genommen hatte, durch Verhandlungen zu befreien. Ob er noch lebt, ist ungewiss.
Diese Beschreibungen einer wertschätzenden, ja liebevollen Verbundenheit zwischen Islam und Christentum haben mich beim Lesen am meisten berührt. Für mich haben sie den Islam, der heute fast nur noch im Zusammenhang mit schrecklichen Terrorakten erwähnt wird, in ein anderes Licht gerückt. Dass es Momente gab, in denen Christen und Muslime nicht nur in Toleranz miteinander gelebt haben, sondern auch in dem Gefühl, EINEM Göttlichen verbunden zu sein, ist vielleicht die schönste und zukunftsweisende Vision dieses Buches. Wunderbar lebendig wird sie, wenn Kermani die Begegnung und Freundschaft des Heiligen Franziskus mit dem ägyptischen Sultan al Malik al-Kamil beschreibt. In der kirchlichen Version, wie sie später verbreitet wurde, wollte Franziskus den Sultan bekehren oder (für viele noch besser) den Märtyrertod sterben. Kermani ist anderer Meinung und führt Forschungsergebnisse und eigene Überlegungen an, nach der sich hier zwei Männer trafen, die von der Schönheit des Glaubens des anderen berührt waren. Aus seiner Sicht musste der Sultan, der dem Sufismus nahestand, Franziskus wohl wie ein Sufi-Mystiker vorgekommen sein. Denn „wenn es einen unter den christlichen Heiligen gibt, der dem Typus des islamischen Gottsuchers, Gottliebenden, Gottnarren entspricht, ist es Franz von Assisi.“ Kermani vermutet, dass Franziskus in einer Friedensmission unterwegs war, um weitere Kreuzzüge zu verhindern, hat dabei aber auch Impulse aus dem Islam aufgenommen, die er in von Franziskus überlieferten Gebeten aufzeigt.
Franziskus konnte damals die Kreuzzüge nicht aufhalten, und auch heute siegt vielerorts die religiös motivierte Gewalt. Die aber, so erklärt Kermani immer wieder, oft von Menschen verübt wird, die ihre eigene Tradition nicht kennen. Dass Christentum und Islam in ihren besten Anteilen und vor allem in ihrer Mystik, im gelebten Glauben an einen liebevollen Schöpfer uns – und einander – auch heute etwas zu sagen haben, davon ist Kermani überzeugt. Es ist auch die Vision eines Friedens zwischen den religiösen Traditionen. Aber kein betäubter Friede ohne Reibung und Verunsicherung, sondern ein lebendiger, dynamischer Friede, in dem sich die gelebte Weisheit der Religionen und spirituellen Wege in einen echten Dialog begeben – miteinander und mit den Errungenschaften der Aufklärung.
Deshalb hat Kermani, der in sich den Aufklärer und Mystiker so innig verbindet, einen Friedenspreis verdient.
Die Rede von Navid Kermani zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels.
Erschienen in evolve 08:
EINE WELT IM DIALOG – Begegnungen mit uns selbst
Hier finden Sie das Inhaltsverzeichnis, das Editorial und den Leitartikel als Leseprobe.