Es bleibt der Ozean
Ein Gespräch mit Willigis Jäger über die Radikalität der Seinserfahrung
Wie kaum ein anderer hat Willigis Jäger die Spiritualität im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten mitgeprägt. In all den Jahren seines Wirkens trat er immer für die transformative Kraft der Erfahrung transzendenten Bewusstseins ein, ohne die für ihn jede Spiritualität in Dogmen gefangen oder oberflächlich bleibt. Dieses Vermächtnis ist auch heute aktuell. Wie Willigis Jäger in diesem Interview betont, das evolve-Herausgeber Thomas Steininger mit ihm im Benediktushof führen konnte, beruht auch unsere Mitwirkung in der Entwicklung von Welt und Menschheit auf der authentischen Überschreitung unseres Ichbewusstseins.
THOMAS STEININGER: Bewusstseinskultur fängt mit der Frage an, wer wir als Menschen eigentlich sind. „Wer bin ich?“ ist so etwas wie die ewige Frage der Mystik, die uns Menschen überhaupt erst auf den Weg bringt, um nach tieferen Dimensionen in uns zu suchen. Wer sind wir?
WILLGIS JÄGER: Unser Alltagsverständnis sagt uns nicht, wer wir wirklich sind. Wir sind ein Wellenschlag in einem zeitlosen Ozean. Unser Intellekt lässt uns vieles begreifen, ist aber eine Eingrenzung. Er sagt uns nicht mehr über uns, als uns ein Blick durch ein Schilfrohr über den Himmel sagt, meint Zen. Der Glaube, dass es möglich sei, alles Wissenswerte durch bloßes Nachdenken zu erreichen, ist eine Illusion, und der naive Realismus, dass die Dinge das sind, was sie scheinen, ist die andere, sagt Albert Einstein. Wer die rational nicht mehr fassbare Tiefe des Seins nicht mit einbezieht, wird keine befriedigende Antwort über das Wesen des Menschen erhalten. Der Weg des Zen und der Mystik hingegen führt uns in die Einheit, Verbundenheit und Liebe.
Jenseits des Intellekts
TS: Eine Übung aller Formen von Mystik, um unser wahres Wesen zu erkennen, ist die Meditation. Der Benediktushof, den Sie aufgebaut haben, ist auch ein Platz der Meditation und diese Praxis ist ein Zentrum Ihrer Arbeit. Warum denken Sie, dass Meditation dazu geeignet ist, uns aus dieser Begrenzung des Intellekts herauszuführen?
WJ: Wenn wir wirklich begreifen wollen, wer wir sind, müssen wir das Ich und seine Eingrenzung überschreiten. Die wirkliche Quelle des Seins liegt jenseits unserer Ichstruktur. Wir müssen mit unserem Wesen in Kontakt kommen, das zeitlos ist. Seit sicher fünftausend Jahren gibt es Menschen, die diese personale und rationale Eingrenzung überschritten haben. Heute ist für immer mehr Menschen der Glaube an einen personalen Gott nicht mehr annehmbar. Der kontemplative Weg und Zen führen unter anderem durch Meditation aus der Eingrenzung eines solchen Glaubens heraus. Wir ahnen dann, dass es eine Seinsebene gibt, die das Ich übersteigt.
TS: Wir haben als Menschheit die Mystik in den unterschiedlichen Kulturen auf unterschiedliche Art und Weise entwickelt. Es gibt in den asiatischen Kulturen, in den europäischen Kulturen, in den verschiedensten Weltkulturen Zugänge, die wir heute allgemein als Mystik bezeichnen. Diese Ansätze weisen interessanterweise große Ähnlichkeiten untereinander auf, obwohl sie aus verschiedenen kulturellen Hintergründen zu dieser Ebene vorgestoßen sind. Sie haben das als den Ozean bezeichnet, der hinter der Welle ist. Inwiefern ist es wichtig für uns zu sehen, dass wir nicht nur eine Welle sind, sondern wahrzunehmen, dass die Welle letzten Endes ein Oberflächenphänomen des Ozeans ist?
WJ: Eine Welle ist ein momentaner Ausdruck des „zeitlosen Ozeans“, des zeitlosen Seinsgrundes. Der Weg des Zen, der christlichen Mystik, der Weg des Vedanta-Yoga und der Weg des Sufismus führen über die Icheingrenzung hinaus und geben uns wenigstens eine Ahnung dieses zeitlosen Grundes. Wenn wir sterben, kehren wir zurück in diesen zeitlosen Seinsgrund, dem alles entsteigt – das, was wir kennen und das Viele, von dem wir keine Ahnung haben. Alle Religionen sind zeitbedingte menschliche Hoffnungsbilder. Wer der personalen Eingrenzung entsteigt, erfährt sich als Wesensgrund und tritt heraus aus dieser personalen Eingrenzung – oder aus dem Egotunnel, wie es der Philosoph Thomas Metzinger nennt. Das Ich kann nicht sagen, wer wir wirklich sind. Unser Ichbewusstsein gleicht einem Schatten, der meint, er verursache sich selbst.
Das Unsagbare sagen
TS: Sie sprechen in Ihren Büchern manchmal von drei verschiedenen Ebenen der Religion: von der institutionellen, der begrifflichen und der mystischen Ebene. Sie sagen, dass es einen Götzendienst des Begriffes gibt, in dem wir uns in unserer Suche nach Gott an Begriffe anhängen. Sind wir aber nicht auch gezwungen, uns über diese Dimension auszutauschen? Gerade wenn wir in dieser Welt eine Erfahrung von etwas haben, das alles übersteigt, müssen
wir dann nicht den Versuch unternehmen, dafür Worte zu finden?
WJ: Die begrifflichen Ebenen der Theologie, Philosophie, Theodizee und Metaphysik sprechen von Erkenntnissen, die im Intellekt zu Hause sind. Sie bringen uns vielfache Erklärungen des Lebens und versuchen, uns die paar Jahre Leben zu deuten, die wir auf diesem Staubkorn Erde am Rande des Weltalls verbringen. Wer diese Ebene übersteigt, begreift, dass unser Leben ein Ausdruck des Seinsgrundes ist, dem alles entsteigt. Diese Erlebnisebene lässt sich nicht erklären. Sie kann vom Intellekt nicht begriffen werden. Alle Worte, die hier nützlich sind, müssen aus der Tiefe der Seinserfahrung selbst kommen. Das wusste auch Thomas von Aquin oder Ignatius von Loyola. Loyola sagte einmal einem Freund: Zöge er aufs Gewissenhafteste die Summe all dessen, was er in seinem tätigen Leben erfahren hat, es würde doch nicht die Erfahrung dieser einen Minute der Seinserfahrung aufwiegen. Immer wieder kommen Menschen zu mir, die mir von dieser Seinserfahrung berichten. Ich bin überzeugt, dass sie in einigen Jahrtausenden allen Menschen geschenkt wird. Wir werden uns aus unserer Egozentrik herausentwickeln.
Wer solch eine Erfahrung macht, kehrt zurück in den Alltag, hat aber sein Leben neu begriffen. Zen warnt davor, auf dem Gipfel der Erleuchtung sitzen zu bleiben. Der Weg führt zurück ins alltägliche Leben. Der Erwachte isst und trinkt und arbeitet wie jeder andere, aber seine Handlungen kommen aus einer Tiefe, die das Rationale überstiegen hat.
TS: Sie haben gerade auch Thomas von Aquin erwähnt, dessen Beispiel sehr beeindruckend ist. Er ist einer der größten Philosophen der Menschheitsgeschichte, der zur philosophischen Entwicklung der christlichen Philosophie und Theologie Grundlegendes beigetragen hat. Am Ende eines reichen, tiefen spirituellen Lebens hatte er anscheinend eine tiefe mystische Einsicht und kommt zu dem Schluss: Alles, was ich geschrieben habe, ist eigentlich Stroh. So wie ich es verstehe, ist der Kern und das Wesentliche jeglicher Mystik das Staunen. Aber wir müssen dann staunend wieder zurück in die Welt und dieser Erfahrung Ausdruck geben.
WJ: Ja, denn wir sind Welle und Ozean zugleich. Aber die Welle muss das auch begreifen. Sie muss sich als Ozean erfahren. Wir müssen begreifen, dass wir Teil eines kreativen Prozesses sind. Wir haben dem Leben eine tiefere Bedeutung zu geben und uns als Ausdruck des zeitlosen Lebensgrundes zu erfahren. Wenn wir uns als Mitschöpfer verstehen, werden wir auch anders miteinander umgehen. Wir werden aufhören einander umzubringen, wie wir das tun, seit wir Ich und Du sagen können. Der Mythos von Kain und Abel ist noch lebendig. Wie Kain seinen Bruder Abel umbrachte, verfahren wir heute noch. Das tun wir als Menschen ständig. Wenn wir den Seinsgrund eines Tages als unser Wesen erfahren, ist es für uns unmöglich, einen anderen umzubringen. Die norwegische Akademie der Wissenschaft sagt, dass es in den letzten 5500 Jahren 14.513 Kriege gab. Seit dieser Zeit sind 3 Milliarden 64 Millionen Menschen umgebracht worden. Wer sind wir, diese Spezies? Wenn wir erfahren, wer wir wirklich sind, werden wir aufeinander zugehen und uns als Gemeinschaft in Freude begegnen.
Verantwortung und Verbundenheit
TS: Die europäische Kultur hat sich in den letzten Jahrhunderten von einer tiefen Spiritualität abgewandt. Es gab auch gute Gründe dafür, dass wir unser eigenes Ich entwickeln; wir wurden individuell und aufgeklärt. Heute scheinen wir an einem Punkt zu stehen, wo individuelle Menschen diese beiden Ebenen, von denen Sie immer wieder sprechen, gleichzeitig leben können: Ich muss die Verantwortung dafür übernehmen, ein Ich zu sein, aber gleichzeitig bin ich viel mehr. Und darin finden wir auch eine neue Grundlage unserer Verbundenheit als Menschen.
WJ: Leben hat im personalen Ich nicht sein Fundament. Der transpersonale Seinsgrund ist unser wirkliches Leben. Er ist voller Dynamik. Ihn als unseren Alltag zu erfahren ist unsere Aufgabe. Wir verlieren dann unser Verständnis von einem Leben, das sinnlos und bedeutungslos ist. Es steigt die Verantwortung für unsere Welt, die wir mitzugestalten haben. Wir erfahren Einheit und Verbundenheit mit allem, was existiert.
Wenn wir auf der mystischen Ebene ankommen, gibt es keinen Buddhismus, kein Christentum, keine muslimische und keine jüdische Erfahrung mehr. Dann gibt es keine Asiaten, keine Europäer und keine Afrikaner mehr. Wir gelangen auf die Ebene, die uns die wirkliche Deutung unseres Menschseins bringt. Es geht um eine Zukunftsfähigkeit als Menschen. Wir hängen noch an einem allzu menschlichen Weltverständnis. Nur wenn wir hinter unsere Rationalität und Personalität schauen, brechen wir durch in diesen leeren unendlichen Seinsgrund. Da gibt es keine Zeit mehr. Wir begreifen dann, dass unser Wesen keine Geburt und keinen Tod kennt. Es ist die Nondualität des „Nicht-Zwei”, des Einen, das keine Teilung kennt. Wir erfahren Einheit und Verbundenheit mit allem, was existiert.
Zurück in die Welt
TS: In der Mystik gibt es unterschiedliche Arten von Mystikern. Solche, die sich von der Welt zurückziehen und die Erfüllung der Mystik ganz im Rückzug von der Welt sehen, und es gibt eine Mystik, die wieder auf die Welt zugeht. Welche ist nach Ihrer Sicht die weiter reichende Mystik?
WJ: Echte Mystik ist weltbejahend. Sie bejaht nicht nur Welt und Mensch, sondern auch den Geschichtsprozess in der Zeit. Mystikerinnen und Mystiker erfahren alles als Ausdrucksform der zeitlosen Wirklichkeit. Zen spricht von zehn Ochsenbildern. Im achten Bild sitzt der Hirte, der seinen Ochsen gefunden hat, ruhig in einer tiefen Erfahrung. Aber der Zen-Weg ist da nicht zu Ende. Der Hirte muss zurück auf den Marktplatz, zurück in den Alltag, um die wirkliche Bedeutung seines Lebens zu begreifen. Es ist der momentane Augenblick, in dem sich sein wirkliches Sein zeigt. Er gelangt so in ein tieferes Verständnis und in eine Verantwortung für sein Leben, das er mitzugestalten hat.
Es gab tatsächlich eine Zeit, wo die weisen Menschen diese Welt anders verstanden haben. Buddha lief im Lendenschurz bettelnd mit seiner Essschale von Mensch zu Mensch. Er ist aus seinem Leben als Herrscher und König ausgestiegen. Wenn das alle Menschen täten, würden wir alle verhungern. Darum hat sich Zen weiterentwickelt und führt uns in unser ganz gewöhnliches Leben zurück, das aus dem Seinsgrund geboren wurde. Uns als diesen Menschen zu begreifen, ist unsere Aufgabe.
TS: Heute am Anfang des 21. Jahrhunderts erkennen wir die Welt in einer Art und Weise, wie wir sie vielleicht noch nie gekannt haben. Wir wissen, dass diese materielle Welt 14 Milliarden Jahre alt ist, dass es eine Entwicklung der Galaxien gab, dass sich dieser Erdball entwickelt hat. Wir sehen zudem die ganze Entwicklung der Menschheit. Gleichzeitig haben wir heute Zugang zu allen mystischen Traditionen der Welt. Wie können wir dieses umfassende Wissen über die sich entwickelnde Welt mit spiritueller Tiefe verbinden?
WJ: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass das Verständnis, das unser Intellekt von der Welt hat, uns zu diesem Menschen macht, der wir sind. Es ist nicht die Wirklichkeit. Materie ist geronnener Geist, sagt die Quantenphysik. Es gibt keine Materie, sondern nur ein Gewebe von Energien, das zur Form wird. Unser Intellekt gibt uns ein sehr begrenztes Bild. Das Fundament unseres Wesens ist nichts Materielles. Gleichzeitig wächst unser Wissen über einen bestimmten Zustand dieser Welt. Aber es ist in Wirklichkeit eine Interpretation, die unser Verstand vollzieht. Wir kreieren mit dem Verstand eine ganz bestimmte Welt. Wenn wir aus dieser Eingrenzung herauskommen, ist die Bedeutung dieser Welt nicht mehr das, was uns der Verstand sagt.
Gleichwohl stehen wir als Menschheit in einem evolutionären Geschehen. Aus einem prähominiden Vorbewusstsein entwickelten wir uns in ein magisches, ein mythisches und in unser jetziges mentales Bewusstsein. Wir bleiben da als Spezies nicht stehen. Ich bin überzeugt, dass die Menschheit aufwacht, aber das wird wohl noch lange dauern. Es ist ein nächster Schritt in unserer Entwicklung als Menschen, hin zu einer Seinserfahrung, in der wir uns als Einheit, Verbundenheit und Liebe erfahren. Diese Liebe führt zur Gemeinschaft mit allen.
Aber noch stecken wir zu sehr im mentalen Bereich. Wir sollten uns weiterentwickeln, aber nicht nur auf der intellektuellen Ebene. Es würde der Menschheit gut tun, wenn sie in den transpersonalen Raum eintreten würde. Das ist die Ebene, die uns bevorsteht. Wer sie erreicht oder wenigstens auf dem Weg dorthin ist, interpretiert sein Leben neu und verliert die Angst vor dem Tod. Dann erkennen wir, dass wir eine Form des Seinsgrundes sind, wie ein goldener Ring eine Form des Goldes ist. Der Ring wird zerbrechen, das Gold bleibt. Unsere personale Gestalt wird gehen; das wahre Wesen, das diese Gestalt hervorgebracht hat, bleibt und kehrt zurück ins All-Eine.
Willigis Jäger trat 1946 in den Benediktinerorden ein und lernte in den sechziger Jahren auf Reisen nach Japan die Zen-Übung kennen. Schließlich blieb er sechs Jahre in Japan und widmete sich einer intensiven Zen-Schulung. Zurück in Deutschland war er in den folgenden Jahren maßgeblich daran beteiligt, die Zen-Meditation bekannt zu machen. Aber seine Erfahrungen im Zen führten ihn auch dazu, das kontemplative Erbe seiner eigenen Tradition neu zu würdigen. Jägers überkonfessionelle Mystik, in deren Zentrum die Seinserfahrung stand, brachte ihn immer öfter in Konfrontation mit seiner Kirche. 2001 erteilte ihm schließlich die von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. geführte Glaubenskongregation ein Rede-, Schreib- und Auftrittsverbot. Kompromisslos ließ sich Jäger von seinem Orden beurlauben, um weiterhin öffentlich lehren zu können und für die mittlerweile zahlreichen Zen- und Kontemplationsschüler seine Lehrerrolle wahrzunehmen. Für dieses Wirken gründete er den Benediktushof Holzkirchen, aus dessen aktiver Leitung er sich 2007 zurückzog.