Mitten ins Leben – Eindrücke von der 7. Integralen deutschsprachigen Konferenz
Mike Kauschke
In der aktuellen Ausgabe von evolve mit dem Titel „Wir-Räume: Die Transformation unserer Beziehungen“ zeigen wir verschiedene Ansätze der Arbeit mit der Erfahrung eines Wir. Alle Beitragenden stimmten dabei in einem Punkt überein: Die Erfahrung des Wir ist kein Selbstzweck, sondern die Öffnung für ein neues Sein und Handeln in der Welt. Wie sich ein neues „Wir-Bewusstsein“ in der Welt verwirklichen kann, war auch eines der Leitthemen der 7. Integrale deutschsprachige Konferenz mit dem Titel „WIR: Mitten im Leben – Den Anspruch des Kopfes UND die Weisheit des Herzens achten“, die vom 19. bis 21. Juni in Oer-Erkenschwick im Ruhrgebiet stattfand. Die Konferenz wurde von Hanna Hündorf, Stefan Schoch und Stephanie Nowicki organisiert und lebendig und zugleich strukturiert geleitet – mit Unterstützung eines engagierten Teams von Helfern, die vor allem aus dem Umfeld der jungen Integralen von iMove kamen.
Etwa 150 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich in der einen oder anderen Weise mit einer integralen Perspektive verbunden fühlen, trafen sich in einem wunderschön in Waldnähe gelegenen Tagungszentrum. Seit vielen Jahren organisiert das Integrale Forum jährlich bzw. zweijährig eine integrale Konferenz. Bezugspunkt ist das integrale Modell von Ken Wilber, das er in seinen vielen Büchern ausführlich differenziert hat. Zu den integralen Denkern gehören auch Jean Gebser oder Sri Aurobindo, die vor Wilber den Begriff „integral“ prägten. Sehr vereinfacht kann man sagen, dass sich „integral“ hier auf eine Perspektive und Bewusstseinsverfassung bezieht, in der getrennte Bereiche unserer menschlichen Erfahrung in eine neue Ganzheit integriert werden. Bekannt ist zum Beispiel Ken Wilbers 4-Quandranten-Modell, in dem er vier Dimensionen unseres Lebens und der Wirklichkeit differenziert und verbindet: die individuelle subjektive (Intentionen), die individuell objektive (Verhalten), die kollektive subjektive (Kultur) und kollektive objektive (Systeme) Dimension. Ein weiteres zentrales Element integralen Denkens ist die Idee und Wahrnehmung einer „Evolution des Bewusstseins“, bei der davon ausgegangen wird, dass sich der Einzelne und die Kultur durch verschiedene Stufen der Entwicklung entfaltet.
Wie diese wenigen Stichpunkte schon zeigen, kann das Ganze sehr schnell sehr komplex werden. Und wie wir wissen, ist das Leben und unsere Welt auch sehr komplex – und wird immer komplexer. Deshalb denke ich, dass eine integrale Perspektive eigentlich notwendig ist, um mit dieser Komplexität umzugehen. Aber wie jede Theorie kann auch die integrale Theorie dazu führen, dass wir vergessen, dass die Theorie nicht das Leben ist, dass – wie Wilber selbst sagt – die Landkarte nicht die Landschaft ist. Wie aber wenden wir die integrale Landkarte in unserer Landschaft an – unser Leben in einer hoch komplexen, krisengeschüttelten Welt – ohne uns in Theorien oder Abstraktionen zu verlieren?
Das war eigentlich die Frage, die bei der diesjährigen integralen Konferenz im Vordergrund stand. Deshalb war es nur folgerichtig, dass zu den Hauptrednern eher die Pragmatiker zählten: Frederic Laloux, der Autor von „Reinventing Organzations“ sprach über seine Recherchen in Unternehmen, die seiner Ansicht nach aus einem integralen Bewusstsein handeln und geführt werden. Sein Buch ist gerade ins Deutsche übersetzt und überraschend gut in den Verkauf gestartet. Unter den zwölf Unternehmen, die Laloux porträtiert, sind auch zwei aus Deutschland: Die Heiligenfeld Kliniken und die Evangelische Schule Berlin Zentrum. Die Leiter der beiden Organisationen Joachim Galuska (Heiligenfeld) und Margret Rasfeld (ESBZ) waren auch mit Vorträgen dabei. Joachim Galuska sprach über seinen Klinikbetrieb, dem mittlerweile sechs psychosomatische und psychologische Kliniken angehören. Er fasste es in die Worte, dass er seine Organisation auf dem Weg zu einem „lebendigen Unternehmen“ sieht. Joachim Galuska beschrieb, wie diese Ausrichtung auf das Leben in der Unternehmenskultur umgesetzt wird, sodass die Entwicklung der Menschen zum zentralen Anliegen wird. Ein wichtiger Aspekt dabei ist eine Kultur der Wertschätzung, in die alle Mitarbeiter einbezogen werden und die auch den Patienten eine besondere Atmosphäre bietet. Nicht umsonst erhielt Heiligenfeld viele die Auszeichnungen, u. a. als „Beste Arbeitgeber“. Joachim Galuska zeigte in seinem Vortrag aber auch, dass für ihn der Begriff und die Erfahrung des Lebendigen im Kern eines integralen Bewusstseins steht, in dem wir uns für die Ganzheit des Lebens in uns und um uns öffnen – was für ihn vor allem mit einem tiefen, intuitiven Spüren des Lebens zu tun hat, das unsere Beziehungen und unser Handeln verändern kann.
Am letzten Tag sprach Margret Rasfeld über ihr Schulexperiment, das nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was die meisten von uns als Schule erlebt haben. Hier gibt es keinen Frontalunterricht, sondern Projektarbeit und Fächer wie „Herausforderung“ und „Verantwortung“, Treffen der ganzen Schule, in denen man anderen ein Lob geben kann etc. Die Schüler arbeiten altersübergreifend und unterstützen sich gegenseitig, Lehrer werden zu Mentoren, die das Potenzial der Kinder ansprechen und unterstützen. Die Begeisterung und der Glaube ans Mögliche, mit der sie über die Umsetzung einer neuen Bildung sprach, sprang aufs Publikum über. Am Ende gab es Standing Ovations. Und bei der folgenden Podiumsdiskussion waren viele Teilnehmer, die selbst Kinder haben, sehr bewegt von der Frage, welche Bildung wir unseren Kindern eigentlich ermöglichen (oder zumuten). Die Tränen, die dabei reichlich flossen, zeigten auch, wie verletzlich uns die Herausforderung unserer konkreten Lebensfragen machen kann, auf die wir – trotz aller Modelle – vielleicht noch keine Antwort haben.
Aber eine Antwort ist vielleicht, sich gemeinsam in den Dialog über diese Fragen zu begeben. Und dafür gab es bei der Konferenz viele Möglichkeiten. Der Achtsamkeitslehrer Gerd Metz sprach zu Beginn der Konferenz über verschiedene Anwendungen von Dialog und unterstützende Haltungen dafür. Und es gab viele Möglichkeiten, sich im Dialog zu üben: in den Workshops zu Themen wie Führung, Frau-/Mannsein, Kommunikation, Gesundheit etc., in denen es auch Gespräche in Kleingruppen gab. Bei zwei World Café-Sessions unter Leitung von Ulrich Söder, auf dem Podium in einem improvisierten Fish Bowl-Format und in den Pausen oder Abends am Lagerfeuer. Das Feuer, mit dem der „Feuerhüter“ Holger Fuchs die Konferenz eröffnet hatte, brannte bis zum Ende und war so etwas wie die materialisierte Flamme der Inspiration, die wohl in vielen Teilnehmern wachsen konnte.
Schön fand ich, dass die drei Tage viel Raum boten, diesen Inspirationen nachzugehen, wie zum Beispiel auch einen Kreativraum, in dem sich Menschen begleitet von Marie-Rose Fritz künstlerisch ausdrücken konnten, oder Meditationen und Bewegungsangebote. Oder auch die „Länderaufstellung“, die der Integral Europe Mitinitiator Bence Ganti aus Ungarn zusammen mit Holger Fuchs leitete. Hier konnten die Teilnehmer sich in ihren Bezügen zu ihren Geburtsregionen in Deutschland/Österreich/Schweiz (und darüber hinaus) erfahren und die Wir-Qualitäten ihrer gegenwärtigen Lebens- und Wirkungsorte erkunden. Ein Labor der Vielfalt und des Kennenlernens mit Raum für Spaß und Improvisation, das im abschließenden gemeinsamen Tönen die Dimension der Ganzheit erfahrbar machte.
In der letzten Runde nach dem abschließenden World Café teilten viele den nächsten Schritt, den sie aus der Inspiration dieses Wochenendes in ihrem Leben gehen wollen – wobei auch neu geknüpfte Beziehungen eine wichtige Rolle spielten. Ganz im Sinne der Absicht: Mitten im Leben anzukommen und weiterzugehen. Für mich war es beeindruckend zu sehen, wie in diesem Feld integral interessierter Menschen eine Art Meta-Sangha, eine Gemeinschaft in individueller Verschiedenheit, gewachsen ist, in der viele schon über einige Jahre in unterschiedlichsten Projekten zusammenarbeiten. Ich habe viele Weggefährten getroffen, mit denen mich eine gemeinsame Vision und Freundschaft verbindet. Und es waren Menschen dabei, die frühere Konferenzen und die Entwicklung des Integralen Forums geprägt haben und damit den Boden für das diesjährige Treffen gelegt haben. Etwas mehr Wertschätzung für diese Wurzeln und Wegbereiter hätte dem Kongress und dem integralen Wir vielleicht gutgetan. Und bei aller Begeisterung für die Umsetzung einer integralen Perspektive habe ich persönlich etwas die vertiefenden Erforschungen vermisst, in der wir uns die Frage stellen, was ein integrales Bewusstsein eigentlich ist und wie es sich weiter entfalten kann. Aber das ist vielleicht auch eher die „Hausaufgabe“ aller Teilnehmer, wenn wir uns in die Umsetzung „mitten ins Leben“ begeben und in der eigenen und gemeinsamen Praxis und Reflexion unsere Entwicklung und deren Ausdruck in der Welt vertiefen.
Das visuelle Protokoll der Tagung von Mathias Weitbrecht.
Aufnahmen der Vorträge und Workshops sind erhältlich bei AV Record.