„Sicher sein ist beängstigend“
Eindrücke von der documenta 14
Sabina Abdulajeva
Während 100 Sommertagen ist die Stadt Kassel durch die Allgegenwart von Kunst verbunden. Ja, sie verwandelt sich selbst in ein Kunstwerk, indem sich die gewohnten Erscheinungsbilder erneuern und sich bekannte Abläufe verändern. Die Kunstwerke, die sich mit verschiedenen Sinnen beschäftigen, regen unsere Phantasie an: Sehen Sie sie, riechen Sie sie, fühlen Sie, wie sie sich bewegen, hören Sie sie flüstern, hören Sie, wie sie Musik spielen. Sie bitten um Ihre Zeit, sich zu verlangsamen und achtsam zu werden. Alle Sinne sind beteiligt, und es wird schwierig sein, einfach durch die Ausstellung zu gehen und die „Liste abzuhaken“.
Manche Werke kommen aus Museen und geschlossenen Räumen. Sie kommen auf die Straße, um den Passanten zu begegnen, ihnen durch einen Lautsprecher etwas zuzuflüstern, das Stadtbild zu verändern, indem man neue Architekturelemente hinzufügt, und uns in öffentlichen Räumen mit ihren Symbolen zu überraschen.
Wenn man durch den Nordstadtpark geht, begegnet man unausweichlich der „Lebenden Pyramide“ von Agnes Denes, verkleidet mit gestapelten Holzterrassen, die mit Erde und einer Vielzahl lebender Pflanzen gefüllt sind. Im wahrsten Sinne ein „Work in Progress“ –
auch Sie werden eingeladen, an dieser allegorischen Struktur mitzuwirken, indem auch Sie Blumen und Gräser pflanzen.
Auf einem Spaziergang im Einkaufsviertel am Königsplatz stolpern Sie über einen monumentalen grauen Obelisk – einem Werk von Olu Oguibe – ein Denkmal für Fremde und Flüchtlinge, worauf Worte aus dem Neuen Testament stehen wie „Ich war ein Fremder und ihr nahmt mich auf“ auf Arabisch, Englisch, Deutsch und Türkisch.
Von dort aus geht es zum Friedrichsplatz. Sie sehen von Weitem die Form der antiken griechischen Akropolis, welche Sie ansieht‚ dann das Parthenon mit den „verbotenen Büchern“ von Marta Minujín, aufgebaut aus 100.000 Büchern, um auf viele historische Begebenheiten der Zensur von Ideen und Gedanken hinzuweisen.
Eines meiner Lieblingswerke, bei dem durch Formen und Wechselwirkungen Räume geschaffen werden, ist Hiwa K’s „Wenn wir ausatmen“ – Röhrenhäuser aus Keramik, innen behaglich ausgekleidet und von den Studenten der Kunsthochschule Kassel, die an der Dekoration der Röhren mitwirkten, rund um die Uhr überwacht, um die Röhren vor dem Hineinklettern der Besucher zu schützen, sollten sie sich am Kunstwerk betätigen wollen. Der Künstler selbst wollte aber ursprünglich diese Keramikrohre als Airbnb-Platz für die documenta-Besucher anbieten. Eine interessante Idee, um die Menschen dazu einzuladen, direkt am eigenen Körper zu erleben, wie sich eine Ortsveränderung, stets neu und umgestaltet, anfühlt.
Die Kunstwerke kommen aus der ganzen Welt, von Nord, Süd, Ost und West – bekannte und unbekannte. Jedes zeigt Aspekte der verschiedenen Welten, von denen sie zeugen, wo sie herkommen und was sie dort erleben. Neben vielen Kommentaren zum Zustand der äußeren Welt (vieles davon ist weit davon entfernt, das Leben zu feiern, sondern zeigt sich lebensfeindlich, ja als Spiegelbild von Gewalt und Aggression politischer Mächte in verschiedenen Teilen der Welt), sind sie ebenso ein Spiegel unserer inneren Welt. Der Zustand der inneren Welt, in der neben anderen Wundern unser eigener, individueller kleiner Diktator lebt, der von Zeit zu Zeit als nervendes Déjà-vu auftaucht und unser Bewusstsein regiert. Aus dieser Perspektive „wissen“ wir vieles über die Dinge und die Menschen. Aber an diesem Ort laufen wir Gefahr, mit dem Lernen aufzuhören. Das Innere und das Äußere spiegeln und reflektieren einander gegenseitig.
In diesem Jahr steht die documenta unter dem Motto “Lernen von Athen“. Die zweifache Struktur der 14. Ausstellung erlaubt eine Verdoppelung der Perspektiven, die von den beiden Orten, Athen und Kassel, geteilt werden, um voneinander zu lernen. Der künstlerische Leiter der documenta 14, Adam Szymczyk, erklärt, dass das Ent-Lernen und Nichtwissen im Mittelpunkt dieser Ausstellung stehen. Die Zeiten des fixierten Wissens und der vorgeschriebenen Seinsweisen gehen zu Ende. Menschen, die denken, die Wahrheit zu kennen, halten daran fest und verteidigen ihren Standpunkt vor allen, die anders denken, fühlen aber, dass dieser stabile Boden langsam schwindet und wir anfangen zu schwimmen. Manche sehen dies als eine Bedrohung, andere sehen es als eine Einladung, Mensch zu sein. Immerzu zu lernen, lebenslang – und sich dadurch von der Konkurrenz hin zur Zusammenarbeit zu entwickeln. Hin zum Zusammenleben. Wir kennen die anderen nicht, wir kennen nur uns selbst. Wir kennen uns nicht, wir kennen nur die anderen.
Der Geist des Lernenden ist der Anfänger-Geist. Er verlangt von uns, das Unbekannte bewusst und vorsichtig zu erforschen. Allerdings fällt es uns schwer, Mehrdeutigkeit auszuhalten und zu tolerieren. Oft wählen wir lieber die Überzeugungen anderer Leute, die starre Kategorien wie „das ist richtig“ und „das ist falsch“ vorgeben. So können wir uns sicher fühlen. Kategorisieren fühlt sich sicher an. Fixiertes Wissen fühlt sich sicher an. Für manche Leute bietet aber das Gegenteil Sicherheit – ohne Kategorien, in totaler Schwerelosigkeit, eine scheinbare Freiheit, in jedem Moment zu wählen, was sie wollen, ohne klare Abgrenzungen. Sicher geschützt vor allem, was Verpflichtung fordert! Sicherheit hat viele Deckmäntel! “BEINGSAFEISSCARY“ (Banu Cennetoğlu) – „Sicher sein ist beängstigend“.
Das Beängstigende an diesem Sicherheitsgefühl ist, in sich wiederholenden Situationen, Gefühlen, Gedanken und Umständen sicher eingewickelt zu werden. Das kann sich wie ein beruhigendes Wiegenlied anfühlen, oder wie das Déjà-vu der inneren Königinnen und Könige, die sich in Diktatoren verwandeln, und die gesamte Bevölkerung immer wieder mit ärmlichen Lebensbedingungen quälen. Wie kommt man zu der Offenheit, wo wir – einzeln und gemeinsam – aufhören, in stets gleichen, bekannten Kreisen zu gehen, die wir längst kennen?
Wiederholung und Kontrolle gehen zusammen. Veränderung und Weite für sich kontinuierlich entfaltende Erfahrungen sind die andere Seite dieser Medaille. Das Gleichgewicht zwischen dem Gefühl der Schwere und der Bestärkung der Freiheit ist fragil.
Das ist echtes Lernen für mich. Es bedeutet, die persönlichen Grenzen der individualisierten und etablierten Weltanschauung zu überschreiten und sich nicht nur einer sicheren Denkweise zu verpflichten. Dazu gehört, Risiken einzugehen und bereit zu sein, seine Überzeugungen herauszufordern, zu überdenken und sich der Arbeit zu widmen. Aristoteles sagt, Mensch zu sein bedeutet zu arbeiten. Energeia. Arbeit und Spiel sind die zwei Seiten der gleichen Sache, und sie können nicht ohne einander existieren. Das authentischste Spiel gründet auf Arbeit, auf etwas Echtem und Verpflichtendem. Die tiefste Arbeit gründet auf Spiel, auf etwas Leichtem und Fließendem.
Echte Arbeit und echtes Spiel beginnen in einer Begegnung. Die Begegnung mit dem Anderen erfordert Mut. Wenn wir uns gegenseitig echt begegnen, kann es ein Einlassen auf unsere Fähigkeiten sein, zuzuhören, uns auszudrücken, zu lernen und voneinander verändert zu werden. Sich einer Begegnung zu öffnen, ist eine Wahl, genauso wie die Entscheidung, andere nicht nach ihrem Aussehen zu beurteilen, oder wie klug oder wie laut sie klingen. Sich in Gespräche zu begeben, die unsere innere Erkenntnis über Identitäten hinausführen, die wir durch unsere Erziehung in diesem oder jenem Land konstruiert, mit Bildung in dieser oder jener Schule, Berufsausbildung in dieser oder jener Fähigkeit erlangt haben, ist nicht einfach, aber wir haben die Wahl. Wir sind gefragt, anderen aus einer Haltung der Aufrichtigkeit zu begegnen, die unsere Identitäten übersteigt oder ihnen zuvorkommt – bevor wir Griechen oder Chinesen, Rechtsanwälte oder Sozialisten waren. Bevor wir die eine oder andere Seite bevorzugten. Bevor wir Etiketten und Kategorien verteilten. Nichts ist falsch an Kategorien, solange sie nicht auf Dogmen gründen, die uns daran hindern, mit- und voneinander in einem kontinuierlichen Prozess zu lernen. Jeder ist Lehrer, jeder ist Lernender. Daraus kann sich ein neuer Raum für Fantasie, Denken und Handeln eröffnen. Wir wissen nicht, was passieren wird, aber wir können uns öffnen, um zu lernen. Kunst wird dann ein Kompass der Phantasie, ein Hinweis auf das, was war, was ist und was möglich sein kann. Ein Wegweiser zu Wirklichkeit und Potenzialität.
SABINA ABDULAJEVA ist eine interdisziplinäre Künstlerin und Pädagogin und verbindet in ihrer Arbeit mit Kindern, Studenten und Erwachsenen Kreativität, Nachhaltigkeit, Bewegung und Fantasie.
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