Die Kraft, die zusammen tanzt
Ein Interview mit Kirstie Simson über das Reden und Hören des Körpers
Wir kommunizieren nicht nur im Sprechen, auch unsere Körper sind kommunikativ. Die nonverbale Kommunikation par excellence ist wohl der Tanz. Renata Keller, Art Direktorin von evolve, sprach mit der Tanzkünstlerin Kirstie Simson über die Sprache des Körpers.
Renata Keller: Kirstie, was begeistert dich so sehr an der Contact Improvisation?
Kirstie Simson: Anfänglich war es die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. In der Contact Improvisation gibt es viele Vertrauensübungen, die mich über die Grenzen des Tanzes als reine Kunstform, die man beherrscht und auf die Bühne bringt, hinausführten. Die Verletzlichkeit, die man dabei mit anderen teilt, hat mich zutiefst berührt. Man lernt zu fallen und arbeitet dabei mit den Kräften der Schwerkraft. Die Schwerkraft ist die Kraft der Liebe im Universum, die alles zusammenhält. Als ich beim Tanz zum ersten Mal tief mit einem anderen Menschen in Berührung kam, spürte ich auf körperlicher Ebene eine magnetische Kraft. Zuerst fürchten sich viele davor, weil sie so daran gewöhnt sind, getrennt zu sein. Sie sind die körperliche Berührung, die in dieser Tanzform geschieht, nicht gewohnt. Wenn sie sich dann daran gewöhnen, übernimmt etwas die Führung, das mir gleichermaßen natürlich wie außergewöhnlich erscheint. Da findet eine Art nonverbale Kommunikation statt. Wenn ich zum Beispiel mit jemandem arbeite, höre ich ihm oder ihr mit meinem Körper zu. Das ist wirklich unglaublich. Ich kann beinahe wahrnehmen, wie sich der Geist des anderen bewegt. Es fühlt sich an wie Meditation, weil der Fokus so scharf ist. Man folgt gemeinsam einer Bewegung. So öffnet sich der Tanz.
RK: Als ich den Dokumentarfilm „The Force of Nature“ sah, in dem deine Arbeit porträtiert wird, erstaunte mich die Disziplin und Würde, die jede Tänzerin und jeder Tänzer ausdrückten. Da liegt eine Sinnlichkeit in jeder Bewegung …
KS: Ja, es ist etwas Außergewöhnliches, wenn wir anderen in dieser Sphäre körperlicher Intimität begegnen können. Diese Tanzform kann eine Möglichkeit sein, um tiefen Respekt für unser Menschsein zu entwickeln. Ich musste gleich zu Beginn eine klare Haltung zu meiner Sexualität finden. Gerade als Lehrerin muss ich in der Lage sein, einen sicheren Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die Studierenden lernen können und nicht von sexuellen Themen abgelenkt werden. Wenn man mit jemandem so nahe tanzt, werden diese Gefühle zweifellos aufkommen. Schon sehr frühzeitig in meiner Tanzpraxis öffnete sich in meinem Körper eine Art Kanal, und ich spürte, wie eine tiefe sinnliche Empfindsamkeit durch mich hindurchfloss. Ich bekam Angst, weil es so überwältigend war. Ich dachte: „Oh, mein Gott, vielleicht werde ich von dieser sexuellen Kraft überwältigt werden!“ Mir wurde klar, dass ich eine Wahl hatte, und ich entschied mich dafür, dieser Energie mit meinem Körper zu folgen. Wenn ich dann entdeckt hätte, dass ich irgendwie sexabhängig wäre, hätte ich mir Hilfe holen können. Als ich meine Arbeit fortsetzte, wurde mir aber klar, dass diese außergewöhnliche Energie, die sich durch mich ausdrückte, die Lebenskraft selbst ist und dass ich ihr folgen musste, sie war also nicht von sexueller, sondern von zutiefst kreativer und sinnlicher Natur und ich lernte diese verschiedenen Kräfte zu unterscheiden. Das war einfach phänomenal. Und man muss sich das auch immer wieder bewusst machen, das fordert Aufmerksamkeit.
RK: Was wäre für dich eine gelungene Performance in dieser Kunst?
KS: Für mich ist es eine gute Performance, wenn die Tänzerinnen und Tänzer ein offener Kanal bleiben und sich nicht von ihrer Beziehung zu ihren Ängsten ablenken lassen. Angst taucht auf, wenn wir das Unbekannte betreten. Das Publikum ist da und projiziert Erwartungen auf dich und umgekehrt. Wenn man in seinen Ängsten gefangen ist, wird man von ihnen bestimmt, oder auch vom Bedürfnis, in den Augen des Publikums gut da zu stehen. Deshalb ist die fokussierte Absicht so entscheidend: in jedem einzelnen Moment absolut präsent und wach zu sein und sich nicht ablenken zu lassen. Dann kann man in dieses Zusammen-Spüren und körperliche Hören eintauchen, von dem ich schon kurz gesprochen habe. Dann öffnet sich der Kanal nicht nur zwischen dir und deinen Partnern, sondern auch zwischen dir und dem Publikum, das sich dann vollkommen respektiert und eingeladen fühlt in diesen Dialog, der zwischen den Tänzern geschieht. Viele Leute denken, dass man in der Contact Improvisation tun kann, was man will, weil man Millionen Wahlmöglichkeiten hat. In Wirklichkeit gibt es aber nur eine Wahl im jeweiligen Moment. Ich höre also auf diese eine Wahl, der ich mich hingebe. Was wirklich richtig und wahr ist, kann durch mich offenbart werden. Ich weiß eigentlich nicht, woher das alles kommt. Ich muss eine Entscheidung treffen, werde aber auch vorwärts getragen. Ich weiß also im Vorhinein nie, was ich tun werde.
RK: Du sprichst von einem sehr tiefen Raum, der sich hier im Tanz erschließt. Wie lehrst du deine Schüler, dorthin zu kommen?
KS: In einem Workshop dauert es etwa drei Tage, bis ich spüre, dass jeder und jede beginnt, persönliche Wünsche und Ängste zu überwinden. Etwas nimmt dann die Gruppe in seinen Bann. Wir gehen gemeinsam in die Tiefe, denn ich gebe keinen Einzelunterricht. Oftmals müssen die Tänzer zurückgehen an den Anfang dessen, was sie zu wissen glauben. Besonders solche, die glauben, dass sie besonders gut sind, können oft nur schwer loslassen.
Wenn das aber dann alle tun, kann der wirkliche Tanz beginnen. Dabei versuchen die Tänzerinnen und Tänzer nicht, zu beeindruckend. Es ist ein tiefer Lebensgeist, der dann die ganze Gruppe übernimmt. Zwischen allen entsteht eine weitaus größere Freiheit und Verletzlichkeit. Interessanterweise werden alle auf ihre individuelle Art schön. Es spielt keine Rolle, ob sie Anfänger oder Fortgeschrittene sind. Es ist, als würde sich die ganze Gruppe miteinander erheben. Und alle spüren eine tiefe und nicht-oberflächliche Freude. Die meisten Seminare beenden wir damit, das Erlebte zu reflektieren. Ich lasse die Tänzer darüber sprechen, um ihre Erfahrungen zu verstehen und sie zu bestätigen. Und ich würde sagen, dass sie sich dadurch auch verändern. Ich weiß nicht, was sie nachher mit dieser Erfahrung tun, ich folge ihnen nicht auf ihrem weiteren Weg. Aber wenn sie wieder zu mir kommen, um mit mir zu arbeiten, sagen sie oft, dass ich ihnen den ursprünglichen Sinn wieder gezeigt habe, der sie zur Tanzkunst gebracht hat.
Kirstie Simson ist eine preisgekrönte Tänzerin und Tanzlehrerin, die laut dem Time Out Magazin „die Grenzen des New Dance erweitert hat“. Kirstie lehrt heute an der University of Illinois und an der SNDO School in Amsterdam, der Danish National School of Contemporary Dance und am Laban Center in London.
Trailer von “Force of Nature”, ein Dokumentarfilm über Kirstie Simson
www.vimeo.com/34894689