Denkanstoß: Momente der Intimität
In seinem Leitartikel zur Ausgabe 09 von evolve zum Thema „GANZ NAH: Intimität als Herz des Lebens“ nimmt evolve-Herausgeber Thomas Steininger den Leser mit in Momente der Intimität. Ein Artikel, der nicht über eine zärtliche Verbundenheit mit der Welt schreibt, sondern mit dem Leser in eine innige Begegnung geht. Einen dieser Momente erlebte Thomas Steininger bei einer Zugfahrt:
„Vor einigen Wochen saß ich wieder im übervollen ICE von Österreich nach Deutschland. Seit Monaten nutzen viele Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan, aber auch aus dem Kosovo diese Zugstrecke. Viele junge Männer sitzen mit mir im Großraumwagen, aber auch Familien mit Kindern.
Es ist die Müdigkeit in den vielen Gesichtern, die mich betroffen macht. In deutschen Zügen wird oft nicht viel geredet, aber das Schweigen hier war doch anders, als würde es die Geschichten all dieser Menschen erzählen. Eine junge Familie mit drei kleinen Kindern versucht, die Schilder am Bahnhof zu entziffern, anscheinend ein unterhaltsames Familienspiel. Ein junger Mann fragt mich auf Englisch, ob es im Zug möglich sei, sein Handy aufzuladen. In unserem kurzen Gespräch erfahre ich, dass er aus Syrien kommt.
In vorderen Teil des Großraumwagens höre ich eine deutsche Frau mittleren Alters. Mit einer unterdrückten aber doch lauten Stimme spricht sie in ihr Mobiltelefon. Offensichtlich hat sie Angst, fast panische Angst. Ich höre etwas von «strengem Geruch», von «den vielen Männern im Zug» und über «dunkle Gesichter». Aber hauptsächlich spricht sie von ihrer Angst, mit diesen Menschen im gleichen Raum zu sein.
Mir schräg gegenüber sitzt eine junge Mutter. Ich vermute eine Syrerin, vielleicht Irakerin. Ihren kleinen Sohn hält sie ganz nah bei sich. Ihr trauriger Blick ist die meiste Zeit auf die vorbeigleitende deutsche Landschaft gerichtet. Ich kann es fast nur in der Spiegelung des Zugfensters sehen. Aber es ist ein Blick, der mich nicht mehr verlassen wird. Ich weiß nicht, ob dieser in die Weite gerichtete Blick mehr der neuen, unbekannten Landschaft gilt, in die sie mit unserem Zug hineinrollt, oder mehr dem Land und all den Geschehnissen, die diese junge Mutter gerade hinter sich gelassen hat. Mit vielen anderen Flüchtlingen verlässt sie in Würzburg den ICE. Ihr Blick ist noch in mir.“
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