Wunder sind möglich – Mein Waldspaziergang im Hambacher Forst von Yvonne Kunz

Wunder sind möglich

Mein Waldspaziergang im Hambacher Forst

Yvonne Kunz

Seit vielen Monaten gehen die Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst, den die AktivistInnen und mittlerweile viele Menschen im Land liebevoll Hambi nennen. Und mittlerweile geht es nicht mehr nur um ein Stück Wald, das vom ürsprünglichen Forst übrig geblieben ist, sondern vielmehr um die Frage: Wie wollen wir leben? Jede Woche kommen mehr Menschen zum und in den Wald, um durch ihre Präsenz ihre Sehnsucht nach einem anderen Umgang mit der Natur und dem Lebendigen zum Ausdruck zu bringen. Nachdem ich diese Aktionen schon einige Wochen über die sozialen Netzwerke und Medien „beobachte“, spürte ich immer mehr den Wunsch, selbst aufzustehen und die AktivistInnen vor Ort zu unterstützen.

Es ist Sonntagmorgen, der 23. September, und ich lese auf Facebook die Nachricht, dass gestern Nacht Räumungspanzer der Polizei im Hambacher Forst unterwegs waren und dringend um Presse vor Ort geben wird. Ich kann es kaum glauben – Räumungspanzer und das gerade einmal drei Tage nach dem Unfalltod des freien Journalisten Steffen M.. Es kursiert die Nachricht, dass „alles abgesagt“ sei und ich habe die Sorge, ob trotz des angekündigten Sturmtiefs genügend Menschen heute den Weg nach Buir zur Kundgebung und zum Waldspaziergang finden.

8.15 Uhr, es regnet in Strömen und wir – mein Mann und ich – machen uns auf den Weg von Limburg a. d. Lahn nach Buir. Kurz vor der Autobahnabfahrt fahren bereits unzählige Polizeifahrzeuge an uns vorbei, doch was mich dann am Forst an Polizeipräsenz erwartet, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Traum erahnen.

Gegen ca. 10  Uhr erreichen wir den vereinbarten Treffpunkt am Collas Kieswerk, es regnet noch immer, aber das stört hier niemanden. Und meine Befürchtung, dass bei dem Dauerregen nicht genügend Menschen kommen, löst sich in Luft auf. Das erste, das mir auffällt, sind die unglaublich vielen jungen Menschen, Familien, mit Kindern – vom Baby im Tragetuch bis hin zum Teenager, Menschen aller Hautfarben, Menschen mit Transparenten und ohne, Musiker mit ihren Instrumenten, Menschen aller Alters- und Gesellschaftsschichten, Spaziergänger mit Hunden. Alles wirkt friedlich, bunt und bürgerlich bis auf den gigantischen Polizeiaufmarsch. Rund um den Wald spannt sich eine Kette von Polizisten und Polizeibussen. Noch nie zuvor habe ich so viele Polizeibusse gesehen. Mir wird mulmig und es ist eigenartig. Ich kenne die Polizei bislang nur als meinen Freund und Helfer – wir wollen doch einfach nur für eine saubere Welt und den Wald Präsenz zeigen. Wie könnte das die „falsche Seite“ sein?

Ich begegne einer jungen Familie mit drei kleinen Kindern im Alter von ca. 1 ½ bis 2 ½ Jahren. Die Kleinen tragen Regenkleidung und in ihren kleinen Händen halten sie laminierte Schildchen in die Luft – darauf steht bittend „Lasst den Wald in Ruhe“! Hinter ihnen drei uniformierte Polizeibeamte mit verschränkten Armen und einem (be-)lächelnden Blick. Irgendjemand sagt, da ist die Zukunft ja gerettet und ich erinnere mich an meine eigenen Kinder im Alter von 3 und 5 Jahren, wie sie sich von mir heute Morgen verabschieden und mir ihr geliebtes „Lorax-Buch“ in die Hand drücken „da Mama, für die Polizei, damit die mal sehen, wie traurig das ist, wenn der Wald kaputt ist.“ Meine Augen füllen sich mit Tränen, ich denke an die Welt von morgen – welche Welt werden wir unseren Kindern und deren Kindern überlassen? Ich sehe in die großen Kinderaugen vor mir, sehe tausende Menschen, die zusammenhalten, die immer wieder rufen „Hambi bleibt“. Ich sehe Hunderschaften von Polizisten und Tränen rollen über meine Wangen. Ein Gänsehaut-Moment. Friedlich demonstrierende Menschen, die einen Wald retten und ein Zeichen setzen möchten für einen solidarischen Zusammenhalt, für die Unterstützung der AktivistInnen im Wald – ein Protest gegen den Abbau von Braunkohle allgemein. Viele sehen es als ihre Bürgerpflicht auf friedlichem Wege sich für den Erhalt des Hambacher Forsts einzusetzen.

Ich versuche weiter Richtung Wald zu gelangen und komme ca. 100 Meter vor der Polizeiabsperrung auf einem Kiesweg zum Stehen, es geht erst einmal nicht weiter. Wir alle sind gespannt, ob wir heute in den Wald dürfen. Polizei und Justiz hatten noch in der Nacht zuvor den Waldspaziergang untersagt. Stattdessen war nur eine Kundgebung gestattet, um die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten zu können. Inwiefern ist meine Sicherheit gefährdet? Für meine Sicherheit und die der Anderen also ein Polizeiaufgebot von offenbar 4000 (laut Veranstalter) Mann? Ich habe eher das Gefühl als ginge es hier um schwer bewaffnete Staatsfeinde.

Im letzten Moment dann bestätigte das  Oberverwaltungsgericht in Münster in der zweiten Instanz die Auflagen für den Veranstalter. Es ist bereits weit nach 10.30 Uhr, dem offiziellen Beginn der Kundgebung, es regnet weiterhin und aus einem Megafon ertönt die Polizeidurchsage, dass wir noch auf unseren „Einsatzleiter“ warten müssen bevor es losgehen kann. Wir warten.

Irgendwann spricht Michael Zobel, der die Waldspaziergänge nun schon im 53. Monat organisiert, zu uns. Er findet einen guten Weg der Kommunikation. Anklagend, aber immer auch deeskalierend sachlich. Zweimal betont Zobel, dass es sich im Wald um ein – laut Polizei – gefährliches Gebiet handelt, und dass beim Betreten des Waldes immer wieder mit Personen- und Rucksackkontrollen gerechnet werden muss. Wir sollen in kleinen Gruppen zusammenbleiben, auf den Hauptwegen gehen und uns nicht allein „durchschlagen“. Jüngst habe es auch den ein oder anderen Zwischenfall gegeben, Waldbesucher seien von der Polizei von Pferd aus mit Schlagstöcken niedergeschlagen worden. Ein fassungsloses Raunen geht durch die Menge.

Michael Zobel ruft noch einmal in Erinnerung, dass die Kundgebung ein Moment des Gedenkens sein soll, aus diesem Grund wird auch darum gebeten, die politischen Forderungen für den Moment zurückzustellen und keine politischen Banner oder religiöse Symbole zu zeigen.

Während der Kundgebung setzen sich immer mehr Menschen, Hunderte – vielleicht sogar Tausende – ab und versuchen, über das Feld und die dahinter gelegene Kiesgrube in den Wald zu gelangen. Sie gehen friedlich, niemand muss rennen oder Polizeiabsperrungen durchbrechen. Zunächst versucht die Polizei noch die Mengen aufzuhalten, soweit ich das aus der „Ferne“ sehen kann, aber die Menschen lassen sich nicht aufhalten und gehen weiter Richtung Wald.

Michael Zobel spricht von seinem Traum: In 20 Jahren hier im Hambacher Forst weiterhin als Natur- und Waldpädagoge tätig zu sein, mit Schulklassen oder einem Kindergarten durch den Wald zu gehen – auf der Suche nach Pilzen oder Tierspuren. Er sagt, „wenig spricht dafür, dass es so kommt, aber ich glaube an dieses Wunder. Und mir fällt der Satz eines tiefgründigen Menschen ein, der sagt: Ja, Wunder sind sicher, aber man muss sie anstoßen. Und das tun wir hier, Wunder anstoßen und wer weiß, manchmal gibt es ihn, den „Kairos-Moment“, der alles verändert.

Und dann endlich auch die offizielle Öffnung der „Absperrung“ – wir dürfen in den Wald. So langsam wird es auch kalt, der Wind immer stärker und ich brauche dringend etwas Bewegung. Unmittelbar nach Eintritt in den Wald sehen wir schon das erste Lager. Eine große Plane, gespannt zwischen Bäumen, in dem die Waldbesucher Spenden für die AktivistInnen ablegen können. Und da sind sie, die ersten Baumhäuser. Ich bin überrascht, wie weit oben sie sind und frage mich, ob da wirklich Menschen drin leben. Doch dann sehe ich auch die ersten AktivistInnen, an Seilen hinauf in die Bäume klettern. Das alles hautnah mitzuerleben, ist etwas ganz anderes als „Bilder“ im Internet oder Fernsehen zu sehen.

Der Sturm wird heftiger und es beginnt noch stärker zu regnen, es wird immer dunkler und alles wirkt irgendwie surreal. Nachrichten erreichen die Waldspaziergänger. Wie die Stimmung sei und ob es ihnen gut ginge? Die Presse berichtet von den Zwischenfällen während der Kundgebung, einer angespannten Stimmung und dass niemand in den Wald käme.

Ja, es wurden Barrikaden gebaut. Sie werden gebaut, weil die Menschen im Wald Angst haben, und weil Barrikaden dafür sorgen, dass jede Menge Einsatzkräfte erstmal mit anderen Dingen beschäftigt sind als damit, Menschen aus den Baumhäusern zu entfernen und die Aufbauten zu vernichten. Die Polizei wird an diesem Tag noch vereinzelt Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen und in Frage stellen, dass es sich hier nur um einen „Waldspaziergang“ handelt. Hunderte Polizisten werden mir noch an diesem Tag im Wald begegnen und immer wieder frage ich mich, ob die das hier nicht auch unnötig finden und lieber auf „unserer Seite“ stehen würden. Diese Frage beschäftigt wohl auch Andere, denn immer wieder hallen die Rufe „Es gibt ein Recht auf Dienstverweigerung“ durch den Wald!

Wie ich wenig später erfahre, befinde ich mich im „Kleingartenverein“ und mehrere AtktivistInnen geben bereitwillig Auskunft über die Lage und die Stimmung vor Ort. Zwei  junge Männer bestätigen die Aussage eines Veranstaltungsteilnehmers am Mikrofon, dass die Einsatzkräfte in der Nacht mit lauten Tonaufnahmen von etwa Kettensägen und Ähnlichem die AktivistInnen beschallen, um ihre Ruhe zu stören und mit Stroboskoplicht der Schlaf gezielt verhindert wird. Gleicher Veranstaltungsteilnehmer berichtete völlig entrüstet, dass er beim Polizeipräsidium nach dem nächtlichen Räumungspanzer-Einsatz gefragt habe und auf sein Drängen schließlich die Rückmeldung eines Kontaktbeamten bekam, dass eines der verfüllten Löcher mit Beton abgesackt sei und man es nun unbedingt nachts hätte erneut mit Beton auffüllen müssen.

Ein junges Mädchen, vielleicht 18 oder 20 Jahre, barfüßig steht sie auf dem nassen Waldboden, die Schuhe werden gerade per Seilzug nach oben befördert. Sie erzählt aus dem Alltag hier in den letzten Tagen, von Platzverweisen und der Gefangenen-Sammelstelle in Aachen. Ein junges Mädchen, voller Energie und dem Glauben daran, hier genau das Richtige zu tun.

Vom Kleingartenverein machen wir uns auf in Richtung Beachtown und Abbruchkante. Mittlerweile bin ich bis auf die Knochen nass, so wie vermutlich die Mehrheit hier, aber an Umkehren denke ich nicht einmal. Hunderte von Menschen kommen uns entgegen, besonders viele Familien mit kleinen Kindern sind dabei und ein Demonstrant, der von anderen gestützt wird. Der junge Mann ist Opfer der Pfeffergasaktion der Polizei, wie ich wenig später erfahre. Auf dem Weg nach Beachtown befinden sich immer mehr Barikaden auf den Wegen, sodass die Einsatzfahrzeuge der Polizei nicht ungehindert durchfahren können. Ein Passant erzählt, dass die Feuerwehr der Umgebung in der letzten Nacht abgelehnt habe, die Wege zu räumen, mit der Begründung, sie habe Wichtigeres zu tun.

An einer Kreuzung halten wir vor vier Polizeibussen und ich beschließe  wie beauftragt  das Lorax-Buch zu übergeben. Mit dem Buch in der Hand gehe ich auf eine Polizeibeamtin zu und überreiche ihr im Auftrag meiner Kinder das Buch über den Lorax, den „Wicht, der für die Bäume spricht, denn die könnens ja nicht“. Zuerst will sie es – trotz einem freundlichen Lächeln – nicht annehmen, mit der Begründung, nicht zu wissen, wo sie es hinlegen solle. Schließlich nimmt sie es doch an und legt es ins Auto.

Ich setze meinen Weg nach Beachtown fort, es regnet und stürmt immer heftiger. Ich schaue in ca. 20 Meter Höhe  und erblicke sie, weitere Baumseelen, wunderschöne Baumhäuser in schwindelerregender Höhe, verbunden mit Hängebrücken und unten am Boden eine Gedenkstelle für den verunglückten Journalisten. Blumen sind niedergelegt, Kerzen brennen. Menschen haben sich um die Gedenkstelle versammelt, sie singen und gedenken Steffen M.

Eine unwirkliche Szenerie eröffnet sich. Wir befinden uns an der Waldgrenze unmittelbar an der Abbruchkante und hinter dem Wald scheint das Ende der Welt zu sein. Nichts als eine „weiße Wand“ ist erkennbar. Wir wollen näher heran – einen Blick werfen auf das gigantische Loch in der Erde, das der Braunkohle-Tageabbau hinterlassen hat. Doch soweit kommen wir nicht heran. Die Polizei hat eine Absperrung gebildet. Mann/Frau an Mann/Frau (in Uniform sieht man keinen Unterschied) reihen sie sich und lassen niemanden hindurch. Unmittelbar davor, auf einer Barrikade aus Baumstämmen, steht ein Mensch mit Blumen und Gräsern in den Händen, die Arme rechts und links in die Horizontale ausgebreitet, hinter der Barrikade stehen weitere Menschen mit einer Friedensfahne, leise besinnliche Musik läuft. Plötzlich schallen Rufe durch den Wald, „Achtung, Polizei kommt jetzt auch von hinten“. Die Polizei gibt irgendwelche Anweisungen, die aufgrund des Regens  und der lautstarken Rufe Anderer nicht eindeutig zu verstehen sind. Selbst wenn man den Anweisungen folgen möchte, fällt dies schwer, da man eben nicht genau versteht, was zu tun ist. Ein kurzer Moment des Unbehagens.

Wir beschließen umzukehren und uns auf den Rückweg zu machen. Wir passieren unzählige Barrikaden, von AktivistInnen und Demonstranten auf den Wegen errichtet, und begegnen noch mehr Polizeibeamten. Am Wegesrand reihen sich Stoßstange an Stoßstange Polizeibusse – die Motoren laufen und einige Besucher äußern ihren Unmut über die Luftverschmutzung und fordern lautstark „Motor aus“!

Auf dem Weg nach Hause bin ich in Gedanken immer noch bei den jungen Menschen im Menschen im Wald. Ich werde mir nachher ein heißes Bad gönnen, einen Tee trinken und mich in einer Decke und trockenen Kleidern aufwärmen können, während die AktivistInnen bei unter 10 Grad und Regen in ihren Baumhäusern ausharren. Ich habe Mitgefühl, Achtung und tiefsten Respekt für die jungen Menschen dort im Wald, ohne sie hätte die ganze Auseinandersetzung rund um das Thema Braunkohleabbau in dieser Region nie diese Größe erreichen können.

Ich denke an Jean Gebsers fünf Bewusstseinsstufen und irgendwie habe ich das Gefühl, die integrale Struktur in Ansätzen heute gespürt zu haben. Irgendwie war da ein integrales Über-uns-Hinauswachsen spürbar, in unserem Denken und Fühlen und Handeln. Denn eigentlich ist trotz so viel Desaströsem eigentlich alles da: Ideen, Initiativen, Menschen, die ihren Kindern und Enkelkindern eine bessere Welt hinterlassen wollen. Wir sind ein Teil der Schöpferkraft dieses Planeten und Wandel ist möglich. Wir müssen ihn nur anstoßen – manchmal still und manchmal lauter, aber immer zugewandt in Menschlichkeit und Liebe .

Ein Video von Yvonne und Claudio Kunz: https://www.youtube.com/watch?v=J_Z9lNDaewg&feature=share

Yvonne Kunz, studierte Erziehungswissenschaften, Germanistik und Sportwissenschaften für gymnasiales Lehramt an der J.W. Goethe Universität in Frankfurt a. M. Seit 2011 unterrichtet sie die Fächer Deutsch und Sport und leitet Arbeitsgemeinschaften rund um das Thema Achtsamkeit, Meditation, Yoga und Glück. Sie ist Achtsamkeitstrainierin, Meditationslehrerin und zertifizierte Entspannungspädagogin für Kinder und gibt spezielle Meditations- und Achtsamkeitskurse für Kinder und Eltern. Daneben ist sie Gründerin der “Regionalgruppe Bergstraße” der Initiative “Stiller Aufstand”.

www.kinder-im-jetzt.de

www.stiller-aufstand.de

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Dr. Elizabeth Debold

For the last forty-some years, I have sought the answer to the question: how can we transform the dynamics of relationship and complexities of desire between women and men so that we all can thrive and reach our full human potential?

This inquiry has taken me from feminist activism in New York City to a doctorate in developmental psychology with Dr. Carol Gilligan at Harvard to a tumultuous global spiritual community that pioneered collective awakening and, finally, to an ongoing experiment in intersubjective emergence in Frankfurt, Germany.

I founded One World in Dialogue, an online forum to explore how intersubjectivity can bring us together across cultures to create new capacities in global consciousness. An author, transformative educator, journalist/editor, community leader and mentor, I have found the answer to my question in the amazing collective emergence of the Co-Conscious We and seek to share its potential in all that I do.