Die 10. Spirituelle Herbstakademie in Frankfurt widmet sich dem Thema “Was ist das spirituelle Potential
der westlichen Welt? – Eine gemeinsame Suche: integral, anthroposophisch, evolutionär.” Der Musikwissenschaftler, Philosoph und Komponist Wolfgang-Andreas Schultz hat sich auf die Suche nach einer verborgenen Tradition in Europa begeben:
Wolfgang-Andreas Schultz:
Europas vergessene Seiten – eine Einladung zur Spurensuche
I.
Die weit verbreitete Selbstbeschreibung Europas erzählt dessen Geistesgeschichte in der Regel anhand zweier Entwicklungslinien, die der Religion und der Wissenschaft, von ihren Konflikten und auch von der Möglichkeit, sie zusammenzubringen.
Das jähe Erstaunen beim Anblick einer Zeichnung aus dem Jahre 1779, die den Menschen in seinen kosmischen Bezügen derart darstellt, dass die Planeten-Archetypen den Stellen zugeordnet sind, wo sich nach indischer Lehre die Chakren befinden, sollte Zweifel an dem europäischen Selbstbild wecken. Woher kommt das? Nicht aus der Religion, zumindest nicht, wie sie in Europa verstanden und praktiziert wird. Und aus der Wissenschaft auch nicht …
Was hat das Abendland gewusst, aber offenbar vergessen? Werden wir heute durch die Begegnung mit asiatischen Kulturen auf eigene unentdeckte Ressourcen gestoßen? Ist die christliche Mystik nur ein etwas unorthodoxes Anhängsel an die institutionalisierte Religion, wie sie von den Kirchen vertreten wird? War Giordano Bruno ein Naturwissenschaftler, der nur den Schritt zur mathematisierten Naturwissenschaft noch nicht geschafft hat? Oder gibt es in der europäischen Geistesgeschichte noch eine dritte Entwicklungslinie? Gerade das Dreieck Kirche – Galilei – Bruno könnte eine Erzählung in drei Linien plausibel machen: einerseits die Kirche, die beide als Ketzer verbrennen wollte, Galilei, der eine mathematisierte materialistische Naturwissenschaft anstrebte und damit in Gegensatz stand zu Bruno, der die Welt als lebendigen, beseelten Kosmos auffasste – also drei überaus konträre Positionen.
II.
Eine reduzierte Selbstwahrnehmung bringt in der Regel ein entsprechend unvollständiges Bild anderer Kulturen hervor. Die vom Islam geprägten Kulturen kennen nicht nur den Gesetzes-Islam in seinen verschiedenen Richtungen (darunter eben auch die fundamentalistischen, auf den Wahabismus zurückgehenden), eine Zeit des Rationalismus und der Aufklärung mit einem Aufblühen der Wissenschaft in den Jahrhunderten um die erste Jahrtausendwende, sondern auch den Sufismus, eine auf vorislamische Traditionen aufbauende Mystik, die Gott im Herzen eines jeden Menschen sucht. Dem Rationalismus verdankt Europa die Überlieferung der antiken Philosophie, zumal des Aristoteles, während der Sufismus, dessen bekannteste Vertreten Dschelaleddin Rumi und Ibn’Arabi sind (beides Mystiker, Dichter und Philosophen zugleich), sich oft im Konflikt mit dem Gesetzes-Islam befand: viele Mystiker wurden verfolgt und sogar hingerichtet.
Auch heute gibt es vielerorts diese drei Linien: eine an Westen und an Rationalität und Aufklärung orientierte Oberschicht, den Gesetzes-Islam und den in der Bevölkerung sehr beliebten Sufismus mit Heiligen-Verehrung, Volksfesten und einer großen Toleranz für andere Religionen.
Es ist eine Tragödie, dass gerade in Ländern wie Pakistan und Afghanistan heute der Sufismus von fundamentalistischen Strömungen wie den Taliban erbittert bekämpft wird; sie „versuchen diese äußerst tolerante, synkretistische Verkörperung des Islam zu zersetzen, obwohl gerade heute ein solches Gesicht des Islam dringend gebraucht wird, um die wachsende Kluft zwischen dieser und anderen Religionen zu überbrücken“, schreibt William Dalrymple , der sogar von einem „Kampf der Kulturen“ spricht, „nicht zwischen dem Osten und dem Westen, sondern innerhalb des Islam.“
Die andere Tragödie ist, dass der Westen diesen Kulturkampf nicht wahrgenommen hat, weil er nur in den beiden Linien Religion und Glaube einerseits und Wissenschaft und Rationalität andererseits denkt.
III.
Wie sieht es nun in der abendländischen Kultur aus, in Europa? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll der Blick auf einige Aspekte der abendländischen Geschichte versuchen, die Frage nach dem möglicherweise unvollständigen Selbstbild zu beantworten.
Unbestritten ist, dass die Entwicklung der Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Platon und Aristoteles zu den ganz großen Leistungen der griechischen Antike gehört, und ebenso unbestritten scheint die Vorstellung, im Bereich der Religion habe das Christentum den verblassenden antiken Götterhimmel beerbt. Aber welche Rolle spielen die dabei oft übersehenen Mysterien-Religionen?
„Offenbar vermochte der allgemeine Kult, also die von Homer geprägte olympische Götterwelt, die religiösen Bedürfnisse auf Dauer nicht zu befriedigen. (…) Die althergebrachte Religion (…) gab keine befriedigende Antwort auf die Frage des Individuums: Woher komme ich? Wohin gehe ich?“ Die Suche „nach einer religiösen Bindung, die sich auf die persönliche Existenz bezog“ fand ihr Ziel in den Einweihungsritualen der Mysterien, die sich zunächst noch mit den olympischen Göttern verbinden ließen, auch wenn von Anfang an Einflüsse aus Ägypten und dem Orient bestimmend waren. Auffällig ist, dass viele Mysterien eine Göttin als Zentrum haben und eng mit den Rhythmen der Natur verwoben sind. „Als Herrin der Natur ist die Göttin mit dem Wachsen, Blühen und Vergehen der Vegetation verbunden (…) Die aufblühende, sterbende und wiedererstehende Vegetation wird im Bilde des blühenden junges Heros gesehen, der von der Allmutter geliebt, aber auch geopfert wird und der wieder neu, aber verwandelt, aufersteht: der Mythos vom sterbenden und wiedererstehenden Gott.“
Pythagoras war wahrscheinlich in die ägyptischen Mysterien eingeweiht, wie Platon in die eleusischen. Dieser ägyptisch-orientalische Anteil der griechischen Antike darf nicht unterschätzt werden, zumal in ihm sich zwei entscheidende Elemente finden, die die Mysterien in Gegensatz zur antiken Götterreligion treten lassen: die persönliche Erfahrung in der Einweihung und die Heiligkeit der Natur mit einer Göttin im Zentrum als Gegengewicht zu dem von männlichen Göttern dominierten Olymp.
Der Gegensatz zu diesen Göttern verschärfte sich von der Zeit an, als im Hellenismus mit dem Isis-Kult eine ägyptische Göttin in den Mittelpunkt rückte. „Isis war (…) keine nationalrömische Göttin geworden wie die Mater Magna Kybele; ihr Kult hatte mit großen Widerständen, ja mit Verfolgung und Vertreibung zu kämpfen.“ Osiris, der Gemahl der Isis, durchlief, wie symbolisch auch jeder Eingeweihte, das Schicksal von Tod und Wiedergeburt, ebenso wie – nach ägyptischer Vorstellung – die Sonne auf ihrer Nachtfahrt. Im Roman „Der goldenen Esel“ von Apuleius ist ein Bericht über die Einweihung in die Isis-Mysterien zu finden. Isis wurde in der Spätantike zur Universalgöttin, „die Eine, die alles in einem ist“. „Die Übereinstimmungen mit dem Christentum sind deutlich, doch ist keine Abhängigkeit zu konstatieren. Der Weg zur universellen Gottheit war vorgezeichnet.“
IV.
Jede Erzählung von Geschichte ist eine Konstruktion und beruht auf subjektiven Entscheidungen, so auch der Versuch, die europäische Geschichte durch drei Entwicklungslinien zu beschreiben. Wie sinnvoll ein solches Unterfangen ist, bemisst sich daran, ob es zu tieferem Verständnis beiträgt – letztlich eine Frage der Evidenz.
Die drei Entwicklungslinien darf man sich nicht strikt getrennt vorstellen, sie können sich in vielfältiger Weise berühren, ja fast verschmelzen, oder sich feindlich gegenüberstehen, und in den verschiedenen Ländern Europa hat es zu verschiedenen Zeit unterschiedliche Ausprägungen der drei Linien in unterschiedlichsten Konstellationen gegeben – man könnte versucht sein, so etwas wie eine nationale Identität der europäischen Länder u.a. durch die jeweilige Erscheinungsform und Konstellation der drei Entwicklungslinien zu beschreiben.
V.
Monotheistische Religionen der Art, dass ein außer- oder überweltlicher Gott geglaubt wird, neigen dazu, da die Welt jetzt „nur“ noch als Gottes Schöpfung, aber nicht mehr als seine Manifestation gesehen wird, die Natur zu entwerten, was im Christentum des Westens durch den Einfluss von Neuplatonismus und Manichäismus bis zu einem extremen Dualismus gehen konnte, der in der Welt und der Natur etwas Gegengöttliches sah.
Andererseits sollte man die polytheistischen Naturreligionen, gegen die sich die monotheistischen durchsetzen mussten, nicht verklären. Die monotheistischen Religionen brachten eine neue Geistigkeit, die Würde des Einzelnen und eine allgemeingültige Ethik, was gegenüber den meisten polytheistischen Naturreligionen einen Fortschritt, in gewisser Weise sogar eine Befreiung darstellte, deren dunkle Seiten ja das Menschenopfer war, eine Praxis, die sowohl für die germanische als auch für die keltische und sogar für die ältere Zeit der griechischen Religion belegt ist. Die dunkle Seite des Christentums allerdings ist der gnadenlose Kampf gegen das Heidentum und gegen jegliche Naturverehrung. Weil der eine Gott letztlich doch männlich gedacht war, lud er dazu ein, bis hin zur Hexenverbrennung alle Spuren weiblicher Naturverbundenheit zu tilgen.
Und dennoch zeigte sich, meist im Geheimen oder im offenen Konflikt mit der Kirche, dass sowohl der Gedanke der Heiligkeit der Natur als auch der einer persönlichen Gotteserfahrung überlebten.
„Irland war (…) eine Entdeckung, weil ich dort auf eine Unterströmung des Christentums traf, die vieles davon besaß, was mir die Kirche nie hatte bieten können: Magie, Poesie, Naturverbundenheit, archaische Kraft (…)“ Im keltischen Christentum in Irland scheinen also christlicher Monotheismus und die Heiligkeit der Natur eine glückliche Verbindung eingegangen zu sein, so lange, bis der Papst mit Hilfe des englischen Militärs die Iren auf seine Linie brachte.
Große Vorsicht mussten die Theologen und Philosophen der Schule von Chartres walten lassen, denn sie begriffen „den Kosmos als ein lebendiges Wesen.“ „Das intensive Erleben der ‘Natur’ war in Chartres seit Urzeiten lebendig. Die Schule von Chartres lebte in dieser Tradition und erweiterte sie, indem sie jetzt einerseits zum bloßen Erleben der Natur deren denkerisches Erkennen hinzufügte und andererseits den Einklang mit dem Mikrokosmos, dem Menschen, erkannte.“ Einklang von Makrokosmos und Mikrokosmos – das wäre die Tradition der hellenistischen Mysterien, und tatsächlich scheint es in Chartres einen Schulungsweg gegeben zu haben, der in mancher Hinsicht den Mysterien der Antike ähnelt. Man fühlte sich „mit Ägypten und der ägyptischen Weisheit verbunden, ihre Bilder waren bekannt, ihre Inhalte präsent (…)“
Die Möglichkeit persönlicher Gotteserfahrung blühte auf in der Mystik des Mittelalters, deren wichtigste Vertreter Meister Eckhart und Hildegard von Bingen sind. Gerade Eckhart hatte heftige Probleme mit der Kirche und der Inquisition – die Verdammungsbulle trifft aber erst nach seinem Tod ein. In der Tat gibt es gewichtige Unterschiede zur Lehre der Kirche, etwa in der Interpretation der Menschwerdung Gottes: für die Kirche ein einmaliges historisches Ereignis in Jesus Christus, für den Mystiker etwas, was sich in jedem Menschen vollzieht, so zu verstehen, „dass ein jeder Mensch ein einiger Sohn ist, den der Vater ewiglich geboren hat.“ Das Bewusstsein der Gottessohnschaft hebt die Trennung von Gott und Mensch auf: Gott wird in der Seele eines jeden Einzelnen geboren und dadurch Mensch.
VI.
Die Renaissance hat nicht nur die griechische Antike wiederentdeckt (deren Philosophie ja bereits durch die Vermittlung der Araber bekannt war), sondern auch Hermes Trismegistos. Dessen „Corpus Hermeticum“ galt lange Zeit als Weisheitstext des alten Ägypten, stammt aber aus der Spätantike und wurde 1471 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt – mit beträchtlichen Folgen, besonders im Kreise der Alchemisten.
Allenthalben führen Spuren nach Ägypten, denn die Alchemie war „größtenteils ägyptischen Ursprungs“ und müsste bereits im 11./12. Jahrhundert über die Araber in den westlich-abendländischen Kulturkreis gelangt sein. „Die Alchemie bildet etwas wie eine Unterströmung zu dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie der Traum zum Bewusstsein.“ Tatsächlich geht es um die „Projektion seelischer Inhalte in die Materie“, und bei dem „alchemistischen Opus handelt es sich zum größten Teil nicht nur um chemische Experimente allein, sondern auch um etwas wie psychische Vorgänge, die in pseudochemischer Sprache ausgedrückt werden. (…) alles Unbewusste war, sofern aktiviert, ins Stoffliche projiziert, das heißt, es trat dem Menschen von außen entgegen.“ Die Alchemie war von der Kirche verboten und doch auch von der gleichzeitig sich entwickelnden materialistisch ansetzenden Naturwissenschaft weit entfernt. C.G. Jung betont in seinem Resümee, „bis zu welchem Grade die Alchemie eine religiös-philosophische oder ‘mystische’ Bewegung war. Sie erreichte wohl ihren Gipfel in der Gestaltung von Goethes religiöser Weltanschauung, wie sie uns im ‘Faust’ erscheint.“
So lebte die seelische Symbolwelt lange weiter, auch als sich die Alchemie längst gespalten hatte in die Naturwissenschaft (Paracelsus) einerseits und die christliche Mystik (Jakob Böhme) andererseits – letzterer wurde von der Romantik hoch verehrt, heißt es bei ihm doch: „Wir zeigen Euch die Offenbarung der Gottheit in der Natur.“ Hier finden wir sie wieder, die Verbindung von Mystik als persönlicher Gotteserfahrung mit dem Gedanken der Göttlichkeit und Heiligkeit der Natur.
Das Corpus Hermeticum wurde auch später, bei Ralph Cudworth (1671/78), so gelesen, dass es „auf eine Theologie der All-Einheit hinausläuft.“ Und George Berkeley fasst 1744 zusammen: „Platon und Aristoteles betrachteten Gott als abstrahiert oder geschieden von der natürlichen Welt. Die Ägypter ( und damit bezieht er sich auf Hermes Trismegistos) aber betrachteten Gott und Natur als Einheit. (…) Damit schlossen sie den verstehenden Geist nicht aus, sondern betrachteten ihn als den umfassenden Raum aller Dinge.“ Diese Theologie „bestand in der Gleichsetzung von Gott und Natur, und zwar so, dass nicht Gott auf die Natur reduziert, sondern die Natur als allumfassende Gottheit verstanden wurde.“
Diese Überlegungen führen ins Zentrum einer Debatte, die zur Zeit der Aufklärung und der Klassik geführt wurde, und bei der es vordergründig um die ägyptischen Wurzeln von Moses und der monotheistischen Religion ging, in Wahrheit aber um die hermetische Tradition und um die Auffassung des Kosmos als stufenweise Manifestation Gottes, um den „Kosmotheismus“, wie Jan Assmann diese Anschauung nannte, um die Tradition der Sicht des Kosmos als lebendiges, beseeltes Ganzes von Hermes Trismegistos über Giordano Bruno und Baruch de Spinoza.
VII.
Die eben zitierten Formulierungen sollten eigentlich die Lesart ausschließen, der Kosmotheismus sei eine Wiederkehr des Polytheismus. Eine Wiederkehr des Gedankens der Göttlichkeit der Natur allerdings, aber keiner wäre zur Zeit der Aufklärung und der Klassik auf die Idee verfallen, antike Götter ernsthaft als Gegenstand der Anbetung neu zu inthronisieren. Vielmehr geschah das alles in einem Raum, in dem ein undogmatisches Christentum genauso Platz fand wie die Idee der Heiligkeit der Natur – das zeigen die Dichtungen von Hölderlin und Novalis (der ja nicht nur das geniale naturphilosophische Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“ dichtete, sondern auch Geistliche Lieder) ebenso wie die Schriften von Lessing und Schiller.
Der Kosmotheismus war zur Zeit der Klassik und der frühen Romantik die in den gebildeten Schichten vorherrschende Weltanschauung, die einherging mit einer Ägyptenmode, deren schönstes Resultat „Die Zauberflöte“ von Mozart wurde, in der das Einweihungsritual in die ägyptischen Mysterien im Zentrum stand, so wie man sie sich in den Kreisen der Freimaurer damals vorstellte. Aber auch die Legende vom verschleierten Bild zu Sais (hinter dem sich die Göttin Isis oder „die Natur“ – im umfassenden Sinne – verbarg) hat die Dichter beschäftigt, dessen Inschrift lautete: „Ich bin, was da ist, was da war und was da sein wird. Meinen Schleier hat niemand gelüftet.“ Von Novalis gibt es ein Epigramm: „Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais – / Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.“ Hier wird die Brücke geschlagen zwischen der Göttlichkeit der Natur und der persönlichen Erfahrung des Einsseins mit dem Göttlichen, in der hermetischen Tradition der Harmonie von Makrokosmos, dem Universum, und dem Mikrokosmos, dem Menschen.
Philosophisch konzentrierte sich der Kosmotheismus in der von Lessing in die Diskussion gebrachten Formel „hen kai pan“ – das Eine in allem, das „All-Eine“. Sie wies zurück auf Spinoza und Bruno und letztlich auf das, was man für altägyptische Weisheit hielt.
Die Aufklärung, die Klassik und die frühe Romantik hatten also durchaus eine spirituelle Seite, allerdings stand diese im Gegensatz zu den Dogmen der Kirchen. Im Hinblick auf die Sicht der Natur gab es aber ebenso Konflikte mit der mathematisierten und damit letztlich materialistischen Naturwissenschaft – die Auseinandersetzung von Goethe mit Newton über die Natur des Lichts und der Farben zeugt davon (dabei ist es nicht ohne Ironie, dass Newton zugleich einer der letzten Alchemisten war). Der Kosmotheismus war also keineswegs nur eine Frage der Religion, sondern betraf genauso das Verhältnis zur Natur und das Konzept von Wissenschaft. Auch hier findet man wieder das Dreieck einer dritten Entwicklungslinie in Konflikt mit der ersten (Kirchen) und der zweiten (materialistische Naturwissenschaft).
Die Idee einer Evolution des Gottesbildes war der Aufklärung nicht fremd – Lessing vertritt sie in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“. Der Grundgedanke, dass Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterschiedliche Gottesvorstellungen haben, findet sich schon bei Maimonides und in der Renaissance bei Pico della Mirandola, wenn dieser von den „geheimen Mysterien, die sich unter der Schale der Gesetzes und unter dem großen Mantel der Worte verbargen“ spricht, und wurde in der Aufklärung unter dem Begriff „religio duplex“ benutzt, um die Vereinbarkeit von „offenbarter und natürlicher Religion“ zu begründen. Auch der Begriff „Monotheismus“ hat einen Bedeutungswandel durchgemacht: War der eine Gott im Alten Testament noch der eifersüchtig über die Treue seines auserwählten Volkes wachende Gott Israels, so wurde er später (im Judentum wie im Christentum) zum universalen Gott aller Menschen. Wenn ein Theologe die kirchlich-christliche Gottesvorstellung so beschreibt: „Es gibt einen allmächtigen und allwissenden Gott, der die Welt geschaffen hat und dieser Welt gegenübersteht und auf sie einwirken kann“, dann ließe sich einwenden: Solange es neben Gott noch ein Anderes gibt, und sei es auch nur die eigene Schöpfung (oder gar der Teufel …), kann von einem reifen Monotheismus noch nicht die Rede sein. Indien kennt den Begriff „Advaita“ – Nicht-Zweiheit; Vivekananda schreibt: „Der Dualist glaubt, dass Gott sich außerhalb des Universums befindet, der Advaitist dagegen, dass Er seine eigene Seele ist.“
So lassen sich unter dem Begriff eines reifen Monotheismus bzw. „Advaita“ die beiden Erscheinungsweisen der dritten Entwicklungslinie zusammenfassen als „Immanenz Gottes“: Gott in der eigenen Seele erfahren in der Tradition der Mystik, und im beseelten Kosmos in der Tradition von der Hermetik bis zum Kosmotheismus. Die Idee der Manifestation Gottes in der unbelebten und belebten Natur bis hinauf zur mystischen Erfahrung schließt die Kluft zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Mensch. „Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und wacht auf im Menschen.“
VIII.
In der dritten Entwicklungslinie finden sich Vorstellungen über seelisches Wachsen und über persönliche Weiterentwicklung, wie sie weder Kirche noch Wissenschaft liefern können, in der Mystik bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, bei Lessing, Karl Philipp Moritz und Goethe, und es ist tragisch, dass diese Linie im Laufe der 19. Jahrhunderts so dramatisch an Bedeutung verlor. Die Ursachen dürften einerseits darin liegen, dass der Kosmotheismus auf keine Tradition spiritueller Praxis zurückgreifen konnte, um den „Gott der Philosophen“ in der Erfahrung und im Herzen zu verankern, andererseits in dem Siegeszug der materialistischen Naturwissenschaften, gegen den sich die Romantiker (besonders Schelling) vergeblich zu stemmen versuchten.
Das überwiegend vorherrschende reduzierte Selbstbild Europas hatte auch zur Folge, dass der eigene reduzierte Zivilisationsbegriff zum Maßstab anderen Kulturen gegenüber genommen wurde. Die „großen Widersacher“ der Kolonisatoren und Siedler, „die es zu bezwingen galt, waren Natur und Chaos, Traditionen und die Geister und Gespenster des ‘Aberglaubens’ jeglicher Art.“ So wurde der Kampf gegen die vermeintlichen Dämonen im Inneren der eigenen Kultur fortgesetzt im Kampf gegen die naturreligiösen Traditionen anderer Kulturen; Europa bekämpfte im Anderen das verdrängte Eigene. Dagegen ließen sich von der dritten Entwicklungslinie aus gut Brücken bauen zu den anderen Kulturen, über die Mystik und den Kosmotheismus.
Da in Europa die Psychologie im Gefolge der Medizin entstand, geriet auch sie rasch unter den Einfluss des materialistisch-mechanistischen Denkens, beschäftigte sich überwiegend mit psychischen Krankheiten und wurde blind für die im Menschen angelegten Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten. Abraham Maslow schrieb: „Es ist, als hätte Freud uns die kranke Hälfte der Psychologie geliefert, die wir jetzt mit der gesunden Hälfte ergänzen müssen.“ Und Daniel Goleman geht so weit zu sagen: „Die modernen psychologischen Theorien haben ihre Wurzeln in der europäischen und amerikanischen Wissenschaft und Kultur, und man kann das Fach Psychologie als kulturgebunden betrachten, so kurzsichtig, ja geradezu solipsistisch ist es in seiner Unkenntnis psychologischer Systeme aus anderen Regionen und Zeiten.“
IX.
Gerade weil, trotz so herausragender Persönlichkeiten wie Henri Bergson und Rudolf Steiner, die dritte Entwicklungslinie weitgehend in den Untergrund gedrängt war, wuchs die Gefahr des politischen Missbrauchs spiritueller Bedürfnisse. Sie bestand immer dann, wenn tatsächlich ein vorchristlicher (etwa germanischer) Polytheismus wiederbelebt werden sollte, wenn die Verbindung des Gedankens der Heiligkeit der Natur mit der jüdisch-christlichen Tradition und der philosophischen Tradition von Griechenland her verloren ging, und wenn das Individuum als Ort der Manifestation Gottes auf dem Altar kollektivistischer Ideologien geopfert wurde.
Das machte die Menschen, besonders in Deutschland, nach 1945 extrem vorsichtig und begünstigte den Rückzug auf ein materialistischen Weltbild, auf Rationalität und Beweisbarkeit.
Viele ahnen inzwischen, dass diese Haltung eine Verarmung bedeutet, zu innerer Leere führt, zu einem Verlust an Lebendigkeit und Kreativität, die gerade im Kulturbereich zu beklagen ist. So lässt sich allenthalben der Ruf nach einer „zweiten Renaissance“ vernehmen, nach einer „kulturellen Wiedergeburt“. Möglicherweise bedarf es dazu eines Anstoßes von außen: „Wir sind überzeugt, dass die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie (…) für die westliche Kulturgeschichte einer ‘zweiten Renaissance’ entspricht.“ Eine Begegnung mit der indischen, japanischen oder chinesischen Kultur könnte Europa sensibilisieren für die vergessenen eigenen Potenziale – so sieht es Francois Jullien : „Meine Arbeit besteht (…) darin, Figuren der Andersheit zwischen China und Europa zu schaffen – nicht um Welten aus ihnen zu machen, sondern um sie auf das europäische Denken zurückzuwenden, um dort dasjenige wahrzunehmen, was es bisweilen zwar kurz als Möglichkeit erblickt, dann aber beiseite gelassen hat, indem es andere Wege bevorzugte; dasjenige also, was dort scheiterte oder an den Rand gedrängt wurde.“
Gewiss kann Europa von den Kulturen des fernen Ostens viel lernen, sind diese doch in der Erforschung des Bewusstseins und in spiritueller Praxis viel erfahrener; und doch finden sich in der europäischen Geistesgeschichte alle Ressourcen, einen eigenen Weg zu finden anstatt den Osten zu kopieren. Die Integration der dritten Entwicklungslinie in das Selbstbild Europas wäre dafür die Voraussetzung.
Eine konkrete Utopie wäre die Harmonisierung der drei Entwicklungslinien. Dafür stehen die Chancen gar nicht so schlecht: In den Wissenschaften mehren sich die Stimmen, die das materialistische Weltbild für falsch halten (Rupert Sheldrake, Thomas Nagel, Ken Wilber ), Stimmen, die Goethe gegen Newton Recht geben, Stimmen eines neuen naturphilosophischen Denkens (Jochen Kirchhoff, Andreas Weber ), und auch in den Kirchen erlebt man eine vorsichtige Öffnung für eine mystische Spiritualität. Die Widerstände des alten Denkens sind beträchtlich, es wird machtpolitisch reagiert statt offen zu diskutieren – man wird aber hoffentlich nicht von einem Kulturkampf innerhalb der europäischen Kultur sprechen müssen … In Kirche, Wissenschaft und Kultur wird die Zukunft denen gehören, die sich wandeln können.
Hier eine PDF des Textes mit Fußnoten und Quellenangaben.
Herbstakademie 2015
Was ist das spirituelle Potential
der westlichen Welt? – Eine gemeinsame Suche: integral, anthroposophisch, evolutionär
Herbstakademie 2015 vom 6. bis 8. November 2015 in der Akademie Gesundes Leben in Oberursel.
www.herbstakademie-frankfurt.de/index.php/2015/