Wie können wir die Spaltung überwinden? – Ein Interview mit Charles Eisenstein

Mike.Kauschke

Mike.Kauschke

Auf dem Weg zu einer Politik der Verbundenheit

Ein Interview mit Charles Eisenstein von Geseko von Lüpke

Charles Eisenstein beschäftigt sich als kultureller Visionär mit einer Neugestaltung unseres Zusammenlebens, hin zu einer Kultur der Verbundenheit. Dabei analysiert er auch die Mechanismen der Trennung, die sich unter anderem in unserer politischen Landschaft zeigen. In diesem Interview spricht Geseko von Lüpke mit Charles Eisenstein über die Wahl in den USA und die Vision einer regenerativen Kultur.

Geseko von Lüpke: Wie würden Sie die Situation in den USA nach diesen vier Jahren der Trump-Administration beschreiben?

Charles Eisenstein: Sie ist extrem gegensätzlich. Und offensichtlich weiß jeder, dass sie stärker polarisiert ist als je zuvor. Im politischen Bereich ist die Kommunikation zwischen den beiden Seiten im Wesentlichen zusammengebrochen. Sie befinden sich in völlig unterschiedlichen Realitäten. Ich sehe nicht, wie sich das in nächster Zeit ändern soll.

GvL: Haben wir damit nicht länger die „Vereinigten Staaten von Amerika“, sondern die „Geteilten Staaten von Amerika“ – zumindest wenn man das Verhältnis der beiden großen Parteien betrachtet? Und: Gibt es auch ein anderes Amerika, das nicht geteilt ist? Gibt es einen Teil der Bürgerschaft, der eine gemeinsame Vision von einer anderen Zukunft hat?

CE: Ich glaube nicht, dass es eine gemeinsame Vision gibt, aber es gibt den Wunsch nach Einheit, den Wunsch nach Heilung, den Wunsch, wieder zusammenzukommen und eine Nation zu sein. Ich sprach mit einer Frau, die sich im Wahlkampf freiwillig für die Andrew-Young-Kampagne gemeldet hat, und sie ging von Tür zu Tür in einem Bundesstaat im Mittleren Westen, der in dieser blau-roten Aufteilung als „roter Staat“, also als sehr konservativ, betrachtet wird. Im Gespräch mit den Menschen stellte sie fest, dass diese sehr konservativen Wähler nicht wirklich hasserfüllt waren, aber sie fühlten sich irgendwie sehr hoffnungslos.
Ich glaube, die Amerikaner sind sehr gespalten in ihren Meinungen und Überzeugungen. Online schreien sie sich gegenseitig an, scheinen aufeinander einzutreten und sich an die Kehle zu gehen. Aber ich persönlich finde, dass die Menschen selbst zugleich insgesamt freundlicher, rücksichtsvoller und höflicher denn je werden. Es ist, als ob das politische Narrativ – die Seite, mit der man sich identifiziert – gegen eine tiefere Tendenz zur Solidarität arbeitet.
Leider verschwindet in der Zeit des Coronavirus die Möglichkeit, tatsächlich persönlich zu interagieren, und die einzige Interaktion, die den Menschen zur Verfügung steht, ist die digitale Kommunikation. Das verschärft meiner Meinung nach die Tendenz zur Spaltung.

Tiefe Verwerfungen


GvL: Halten Sie in dieser Situation der Spaltung einen politischen Wandel mit der neuen Regierung für möglich?

CE: Fast jedes Mal, wenn ein neuer Präsident gewählt wird, sagt er ein paar Worte darüber, wie wir zusammenkommen, unsere Differenzen heilen und der anderen Seite die Hand reichen können. Biden sagt das auch. Ich denke, dass das durchaus aufrichtig ist. Ich glaube, wenn ein neu gewählter Präsident ins Amt kommt, dann will er wirklich Präsident des ganzen Volkes sein und das Volk vereinen.
Aber die zugrunde liegenden Spaltungen setzen sich immer wieder durch. Die „normale Uneinigkeit“, an die wir uns gewöhnt haben, beherrscht sehr schnell den politischen Alltag, und wir befinden uns dann wieder in der gleichen bekannten Situation. Ich glaube nicht, dass sich das grundlegende Weltbild der Amerikaner ohne eine tiefgehende, große Krise wirklich ändern wird.


GvL: Sie erwähnten die so unterschiedlichen Sichtweisen oder unterschiedlichen Narrative der beiden großen Parteien, die gegensätzlich sind. Besteht das wirkliche Problem in den USA in den unterschiedlichen politischen Ansätzen der beiden großen Parteien? Oder geht es beim Kern und der Wurzel der Krise, von der Sie sprechen, um etwas ganz anderes? Was ist das Grundproblem?

CE: Die Demokraten und Republikaner sind in vielen Fragen vordergründig scheinbar vehement unterschiedlicher Meinung, aber auf einer tieferen Ebene sind sie sich völlig einig, insbesondere über die Rolle Amerikas in der Welt: die Idee, dass wir die globalen Guten sind, die Helden. Dass die amerikanischen Werte und der „American Way of Life“ ein richtiges Modell für den Rest der Welt sind, das notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden kann: die Aufrechterhaltung von 800 Militärbasen, der neoliberalen, marktwirtschaftlichen Wirtschaft, die der ganzen Welt aufgezwungen wird, das internationale Schuldenregime. Darüber sind sich beide Parteien wie im Gleichschritt einig. Auch über die Grundstruktur unserer Wirtschaft oder unser Gesundheitssystem gibt es kaum unterschiedliche Sichtweisen. Keine der beiden Parteien befürwortet eine allgemeine Gesundheitsversorgung für Alleinstehende oder gar einen grundlegenden Umbau des Strafvollzugssystems oder der Gefängnisse oder irgendeine andere tiefgreifende Veränderung.
Dabei sage ich nicht, dass es egal ist, welche Partei im Amt ist, oder dass es keine Unterschiede gibt. Sie mögen sich über Lösungsansätze der aktuellen Probleme uneins sein, aber die Grundbedingungen, die die eigentlichen Probleme in den USA verursachen, werden bestehen bleiben, egal welche Partei an der Macht ist, wenn sich nicht radikal etwas ändert.

Nötiger Systemwechsel

GvL: In dieser für die zivilgesellschaftliche Opposition schwierigen Zeit der Trump-Jahre habe ich von vielen Freunden in den USA gehört, dass die Zahl der Initiativen, die neu entstanden sind, enorm gestiegen ist. Zuletzt gab es deutlich mehr Widerstand gegen Trump. Wie würden Sie dieses Wachstum der Gegenkulturbewegung in den letzten vier Jahren beschreiben? Ist ein Bewusstsein gewachsen, dass sich in den USA etwas grundsätzlich ändern muss?

CE: Vielleicht liegt der Grund für das explosive Wachstum der Basis- und Gemeinschaftsbewegungen darin, dass mit der Wahl von Trump viele Menschen die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Regierung das Richtige für uns tun wird. Jetzt, da Biden gewählt ist, werden vielleicht einige Leute wieder Hoffnung haben, dass die Regierung die Verbündete des sozialen Friedens werde, zur Heilung des Rassismus beiträgt, die wirtschaftliche Ungleichheit angeht und so weiter. Ich fürchte jedoch, dass diese Hoffnungen enttäuscht werden, denn die wirklichen strukturellen Grundlagen, sagen wir, des Rassismus in diesem Land, sind das wirtschaftliche und sogar physiologische und kulturelle Erbe von Generationen und Jahrhunderten von Traumatisierung. Das verschwindet nicht einfach, weil Sie in Ihrem Büro, in Ihrem Unternehmen oder in Ihrer Regierungsstelle ein Diversity-Training absolvieren. Das ändert nicht das wirtschaftliche Erbe und das soziale Erbe des Traumas. Es könnte sogar weitergehen, selbst wenn es keine wirklichen Rassisten mehr gäbe, d. h. Menschen, die eine bewusste Ideologie von “Schwarze Menschen sind minderwertig” oder so etwas in der Art haben. Solange die herkömmlichen Strukturen sich nicht ändern, bleibt die Situation fast unverändert. Es muss eigentlich keine Rassisten geben, damit der Rassismus auf der strukturellen Ebene weitergeht.
Dem Rassismus muss auf einer strukturellen Ebene begegnet werden, während es bei unserem gegenwärtigen Zeitgeist mehr um die individuelle Ebene geht und darum, die Spuren des Rassismus in einem selbst auszulöschen. Aber das ändert nicht notwendigerweise etwas an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und um sie nach außen hin zu verändern, ist ein Systemwechsel erforderlich. Das ist für diejenigen, die in das System eingebettet sind, sehr viel schwieriger durchzuführen und ist sicher alles andere als bequem.

GvL: Sie sprachen von einer notwendigen Krise, um den tieferen Grund der Konflikte wirklich zu berühren. Was ist Ihr Bild einer solchen Krise? Braucht es so etwas wie einen Zusammenbruch des Systems, bevor die tieferen Probleme wirklich gesehen und behandelt werden?

CE: Mit unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Krisen ist es wie mit einer gescheiterten Beziehung oder irgendeiner Situation im Leben, die Probleme verursacht: Am Anfang versuchen wir, die Probleme zu beheben und nicht die zugrunde liegende Ursache anzugehen. Und wir denken, wir können die Dinge wieder in Ordnung bringen. Irgendwann jedoch ist die Krise so weit fortgeschritten, dass sie uns zwingt, die eigentlichen Ursachen zu betrachten. Wenn die vorübergehenden Lösungen auslaufen, kommen die tatsächlichen Probleme ins Blickfeld. Noch versuchen wir auf die Krisen mit Reparaturmaßnahmen zu reagieren. Deshalb glaube ich, dass wir im Moment noch nicht ganz so weit sind. Wir denken, dass die Probleme unserer Zivilisation, unsere ökologischen Probleme zum Beispiel durch eine technische Lösung gelöst werden könnten, indem wir im Wesentlichen die Dinge tun, die wir bereits tun, und das nur ein bisschen besser machen.
Zum Beispiel wird versucht, die nationale Sicherheit dadurch zu erreichen, dass man die ganze Welt einfach ein bisschen besser kontrolliert. Vielleicht könnten wir die Kriminalität stoppen, indem wir überall Kameras anbringen und einen Algorithmus der Künstlichen Intelligenz entwickeln, mit dem wir vorhersagen können, wann jemand ein Verbrechen begehen wird. Oder man geht davon aus, dass wir eine bessere Gesundheit erreichen können, indem wir den Aufenthaltsort aller Personen jederzeit überwachen und zurückverfolgen. Letztendlich versagen auch diese Maßnahmen, wenn es darum geht, Verbrechen und Krankheiten zu stoppen, denn die Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen, passen nicht zu den Technologien und Reaktionen, die uns zur Verfügung stehen. Um nur das Beispiel der menschlichen Gesundheit zu nennen: Wir sind ziemlich gut darin, Bakterien abzutöten, aber wenn es sich um ein Problem wie Autoimmunität oder Sucht oder Depressionen handelt, dann gibt es von außen nichts Schlechtes zu bekämpfen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen, also ignorieren wir es einfach und suchen stattdessen nach etwas, das wir bekämpfen können.

GvL: So wie die kämpferischen Maßnahmen bei Covid 19 mit Mund-Nasen-Schutz und Lockdowns?

CE: Ja, wir machen all diese staatstragenden Handlungen, wir verhängen Sperren und setzten auf Abstand und soziale Distanzierung. Und nach einem, zwei, fünf Jahren stellen wir dann vielleicht überrascht fest: Wir sind eigentlich noch weniger gesund als vorher! Und müssen uns fragen: Könnte es sein, dass es unsere Reaktionen sind, die uns krank machen?

Und das ist nicht nur mit der Gesundheit so! Könnte es nicht auch sein, dass unsere Reaktionen auf den Terrorismus den Terrorismus verschlimmern? Könnte es sein, dass unsere Reaktionen auf die Einwanderung und das gesamte globale Grenzsystem die Einwanderung verschlimmern? Und dass das ganze System der internationalen Verschuldung die Einwanderung antreibt? Wir beginnen, auf einer immer tieferen Systemebene zu suchen. Und wenn das passiert, dann ist das erste, was uns passiert, dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen. Wir dachten, wir wüssten, was zu tun ist. Und wir erkennen, dass wir mit unserem Latein tatsächlich am Ende sind. Das ist die Art der Krise, von der ich spreche.

Eine Krise der Kontrolle

GvL: Eine Krise in unserem Anspruch, die Welt zu kontrollieren und die Herren des Universums zu sein?

CE: Im Grunde handelt es sich nicht unbedingt um einen Asteroiden, der auf der Erde einschlägt, oder um eine Kernexplosion oder eine solche Krise, es ist lediglich eine Situation, in der es offensichtlich wird, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen. Diese Erkenntnis bringt den ganzen Mythos der Gegenwart ins Wanken, der uns bislang sagte, was die Welt ist, wie sie funktioniert und wer wir sind. Diese Mythologie bewegt sich auf immer dünnerem Eis. Wir kommen immer mehr in Situationen, die deutlich machen, dass wir nicht wissen, was wir tun sollen, dass wir nicht wissen, wer wir sind. Wir befinden uns in einem Zustand der Verwirrung. Aber gleichzeitig ist dieser Zustand die Voraussetzung dafür, dass eine neue Geschichte, ein neues Narrativ entstehen kann.

GvL: Ist dieses neue Narrativ oder Weltbild, das da mühsam geboren wird, mit irgendeiner Art von politischer Kraft verbunden? Sie waren vor Jahren eine der führenden Persönlichkeiten der systemkritischen Occupy-Bewegung, die damals sehr unerwartet an der Basis der Gesellschaft auftauchte, aber auch bald wieder verschwand. Gibt es also so etwas wie einen politischen Willen für ein neues Paradigma im demokratischen System? Oder ist die Verwirrung wie eine kulturelle Situation, die erst einmal verstanden und akzeptiert werden muss?

CE: Ich glaube nicht, dass irgendjemand wirklich weiß, was er im Moment tun soll. Das ist sogar an den Rändern der Gesellschaft so, wo es kreative Leute gibt, die radikale soziale Experimente versuchen, mit verschiedenen Arten der partizipatorischen, dezentralisierten Entscheidungsfindung experimentieren, die keine Hierarchien erschaffen oder mit einfachen Mehrheitsentscheidungen arbeiten, sondern auf Konsens setzen. Egal zu welchen Regierungsformen wir in Zukunft kommen werden, wird das Ergebnis vieler Experimente und vieler Fehlschläge sein. Ich kann also nicht sagen: „Okay, da gibt es dieses oder jenes Modell.“ Wir wissen es noch nicht.

GvL: Gibt es eine politische Kraft, die sich für diese Art von grundlegender Veränderung einsetzen könnte? Gibt es für so eine Wende ein politisches Bewusstsein?

CE: Es gibt eher so etwas wie eine politische Frage, die sich aus dem tiefen Wunsch nach einer grundlegend anderen Welt und dem Wissen ergibt, dass es möglich ist, aber niemand wirklich weiß, wie man dorthin gelangt könnte – vor allem mit den politischen Kräften, die bereits konstituiert sind. Es gibt bereits sehr viele Think Tanks des bestehenden Systems, aber ihre Vorstellungskraft reicht bei weitem nicht aus, um sich Ziele auszudenken, die wir als Gesellschaft wirklich ansteuern wollen. Gerade jetzt, nach der Wahl von Joe Biden, atmen viele Menschen erstmal auf und denken, jetzt können die Dinge wieder zur „Normalität“ zurückkehren. Aber die Normalität ist nicht das, wo wir hinwollen. Die alte „Normalität“ war nicht sehr gut. Es war vielleicht nur ein etwas langsameres Abgleiten in die ökologische Katastrophe und die Ungleichheit des Wohlstands. Diese Entwicklungen fanden unter Obama statt, genau wie unter Bush oder Clinton.

Es ist also nicht so, dass wir auf dem „richtigen Weg“ waren und alles immer besser und besser wurde, bis Donald Trump gewählt wurde. Sicher gibt es jetzt eine große Hoffnung, die auf Joe Biden projiziert wird. Aber ich denke mit Sorge daran, was passieren wird, wenn diese Hoffnung nicht eingelöst wird. Auf wen werden wir dann unsere Hoffnung setzen?

Vielleicht sollten wir ja wieder hoffen, aber in der Vergangenheit war die Enttäuschung größer. Was wurde von Obama erhofft! Da gab es enorme Hoffnung auf Veränderung. Stattdessen blieb die Wall Street bestehen, der militärisch-industrielle Komplex blieb bestehen, die Guantanamo-Gefängnisse bestanden weiter, die Truppen blieben im Irak und in Afghanistan. Der Wohlstand wurde immer ungleicher verteilt. Es hat sich eigentlich nichts geändert. Und all das setzte sich unter Trump fort, und ich sehe nichts, was unsere Hoffnung rechtfertigt, dass es unter Biden nicht weitergeht. Es wird sich sicherlich nicht automatisch ändern.

Es bräuchte einen echten Ausdruck des Volkswillens nach dem Motto: Das Problem ist gelöst. Der Gute hat gewonnen, der Böse hat verloren. Jetzt können die Dinge wieder zur Normalität zurückkehren. Aber das wird nicht passieren!

Ablehnung des Status quo

GvL: Gibt es nach Occupy noch so etwas wie eine Gegenbewegung in den USA? Oder gibt es nur so etwas wie eine kleine Gruppe von Intellektuellen, die von einem großen Wandel sprechen? Oder könnte es eine Bürgerrechts-Bewegung wie vor 40 Jahren geben, die ja sehr mächtig war? Oder gibt es nichts dergleichen?

CE: Es gibt eine Menge ungenutzter Wut, Verärgerung und Zorn in der Bevölkerung der USA, was meist auf sehr unorganisierte Weise zum Vorschein kommt. Aber diese Gefühle haben sich nicht zu einer wirklich kohärenten politischen Philosophie entwickelt oder eine Vision für die Zukunft formuliert. Aber der Erfolg von Bernie Sanders, die Reaktion auf die Polizistenmorde an Schwarzen bei den Protesten und dann die Unruhen – ja sogar ein großer Teil der Unterstützung für Donald Trump – wurzelt in dieser tiefen Ablehnung des Status quo. Der Verlust wirtschaftlicher Stabilität, den die Menschen wie eine Enteignung erleben, ist überall spürbar. Es sind ja längst nicht mehr nur Menschen mit schwarzer oder brauner Hautfarbe, Minderheiten und andere unterdrückte Gruppen, die jetzt einen wirtschaftlichen Zusammenbruch erleben. Selbst die weiße Mittelschicht ist schlechter dran als noch vor ein oder zwei Generationen. Niemand glaubt, dass die Welt immer besser und besser wird. Kaum jemand zeigt noch Bereitschaft, in das System zu investieren.

Diese Unzufriedenheit ist wie ein Lava-See, der unter der Oberfläche brodelt. Und jedes Mal, wenn sich eine Gelegenheit bietet, die tief genug ist, um diese Lava an Zorn und Enttäuschung zu erreichen, sehen wir eine Eruption.

Aber bisher war diese Energie chaotisch und gegen sich selbst gerichtet. Die berechtigte und authentische Wut einer Gruppe von Menschen in der Gesellschaft richtet sich dann gegen eine andere Gruppe von Menschen in der Gesellschaft. Sie kämpfen gegeneinander, aber lassen das größere System unangetastet. Solange wir also nicht in der Lage sind, die Vision eines anderen Amerikas zu formulieren, welche die aktuellen politischen Kategorien und Parteien umgeht, und von Menschen jenseits von „rechts“ oder „links“ angenommen werden kann, wird sich nichts ändern.

GvL: Im letzten Jahr stand das Klimaproblem auf der internationalen Tagesordnung. Am Wahltag selbst haben die USA das Pariser Klima-Abkommen verlassen. Vielleicht wird Biden ja dem Klima-Abkommen wieder beitreten. Ist die Konzentration auf die Klimakrise immer noch der richtige und nützliche Weg zur Nachhaltigkeit und einer lebenswerten Zukunft? Reicht das noch für die Probleme, vor denen wir stehen?

CE: Ich will niemandem über den Mund fahren und sagen: „Wir sollten nicht länger über Nachhaltigkeit sprechen. Wir sollten stattdessen über Regeneration sprechen.“ Nehmen wir Nachhaltigkeit ernst, dann impliziert dieses Wort eine Frage – nämlich: Was wollen wir erhalten? Wollen wir die Welt, in der wir gelebt haben, erhalten, oder wollen wir einen wirklich neuen ökologischen Weg finden? Oder geht es um eine „Nachhaltigkeit“, in der wir weiter in immer größeren Häusern leben, immer mehr fahren und überall hinfliegen, mit Haufen von Plastikschrott und einem konsumorientierten Lebensstil weitermachen? Ist es wirklich das, was wir erhalten wollen?

Und wenn wir den Begriff „Nachhaltigkeit“ loslassen, dann kommt eine neue Frage auf – nämlich: Was wollen wir schaffen? In was für einer Welt wollen wir leben? Solche Fragen führen dann zum Ansatz der Regeneration. Denn wenn wir diese Frage tatsächlich stellen, dann wollen wir doch in einer Welt leben, die wieder zum Leben erwacht, in der die zerstörten Ökosysteme wieder geheilt werden und die bedrohten Arten wieder gedeihen. Wie können wir das erreichen?

Einiges davon ist vielleicht sogar schon im Klimadiskurs des Mainstreams angedacht. Aber viele Aspekte einer solchen Forderung nach Heilung von zerstörten Systemen werden durch die Pariser Abkommen nicht bedient. Es ist sicher keine schlechte Sache, gegen die Klimakrise vorzugehen. Aber vieles von dem, was bei den Bemühungen um eine Reduzierung der Kohlenstoffemissionen geschieht, schadet den Ökosystemen der Erde sogar noch mehr. Ich habe gerade einen Artikel darüber gelesen, dass  deutsche Kraftwerke, die von Kohle auf Holzhackschnitzel umgestellt wurden, Holzhackschnitzel verbrennen, die aus Namibia, Osteuropa, Rumänien und dem Baltikum importiert wurden, um sogenannte „kohlenstoffneutrale Energie“ zu erzeugen. Aber in Wirklichkeit werden dafür woanders uralte Wälder abgeholzt. Da werden Ökosysteme verwüstet, aber die Zahlen sehen so aus, als würden die Verantwortlichen die Welt retten. In Großbritannien wurden jahrelang Holzschnitzel aus den Wäldern des Südostens der Vereinigten Staaten verbrannt. Und es gibt auch Probleme mit riesigen Industrien für Windturbinen und Sonnenkollektoren mit denen global auf saubere Energie gesetzt wird.

Regeneration stärken

GvL: Was setzen Sie diesem globalisierten Ansatz entgegen: Hier zu zerstören, um dort zu retten?

CE: Was wir wirklich tun müssen, ist wieder eine Beziehung zu den Orten, wo wir leben, also dem Land um uns herum, aufzubauen und unsere Aufmerksamkeit auf die Heilung dieser Orte zu richten. Wir müssen diejenigen Ort schützen, die noch intakt sind, und diejenigen heilen, die beschädigt wurden. Wenn wir das tun, müssen wir natürlich das Fracking, das Bohren nach Öl, den Bergbau und all diese Dinge einstellen. Die Heilung lokaler Böden wird auch zu einer Verringerung der Kohlenstoffemissionen führen, denn sie wird eine Menge Kohlenstoff im Boden binden. Wenn man sich also tatsächlich auf die Erhaltung und Regeneration des Ökosystems konzentrieren würde, würde der Kohlenstoffausstoß wahrscheinlich sogar noch schneller sinken als mit der derzeitigen Politik. Der Schwerpunkt muss auf der Regeneration von Land und Wasserkreisläufen liegen.  

GvL: Ist Regeneration dann so etwas wie ein zirkulärer Ansatz, bei dem wir uns wirklich an die Kreislauf-Regeln der Natur halten? Statt eines linearen Ansatzes, bei dem wir letztlich immer versuchen, das übergeordnete Natur-System zu kontrollieren und zu unterdrücken und so viel Profit und Wachstumsraten wie möglich herauszuholen? Braucht es auch hier ein neues Verständnis für den Einklang mit dem übergeordneten System?

CE: Ja! Die wirkliche Grundlage dieses regenerativen Ansatzes ist es, uns als Teil der Natur zu verstehen, zu akzeptieren, dass wir ein Teil der Ökologie sind, und dann danach zu streben, den Gesetzen der Ökologie zu folgen. Dazu gehört in erster Linie: Abfall ist Nahrung. Alles, was wir produzieren, muss also für etwas anderes im Ökosystem nützlich sein. Es ist auch die Wahrnehmung, dass der Kuhdung kein Dreck, sondern ein Geschenk an den Boden ist. Jedes Wesen schafft in der Natur in seinem Lebensprozess die Voraussetzungen für mehr Leben um ihn herum. Wir, die Menschen, können uns an diesem Modell orientieren, indem wir unsere Aufmerksamkeit und unseren Wert, ja sogar unseren wirtschaftlichen Wert bewusst auf Produkte richten, die das Leben um uns herum verbessern. Es geht darum, wieder Teil des Kreislaufs des Lebens zu sein. Wir können uns immer wieder daran erinnern, dass wir ein integraler Teil des Lebenskreises sind und entsprechend dieser Wahrheit leben.

Eine Geschichte der Verbundenheit

GvL: Wir befinden uns dann offenbar in einer Situation, in der wir kollektiv noch nicht wirklich verstanden haben, dass wir einem zerstörerischen Narrativ oder „falschen“ Weltbild folgen. Wenn es im „neuen Narrativ“ darum geht, unsere eigene Rolle auf dem Planeten zu ändern, was muss dann als Nächstes geschehen, um dieses Weltbild zu ändern? Ist es eine Frage der Bildung? Ist es eine Frage des Bewusstseinswandels? Geht es um einen anderen kulturellen Diskurs? Oder geht es erst einmal schlicht um die verantwortungsvolle Akzeptanz der Realität, die wir geschaffen haben?

CE: Auch ich habe keinen Plan, wie das Narrativ unserer Kultur oder die Geschichte unserer Zivilisation praktisch verändert werden kann. Mir geht es eher um den persönlichen Wunsch, an einer möglichen Veränderung teilzuhaben. Die Art dieser Teilhabe ist für jeden Menschen anders. Für Leute wie mich, die eine öffentliche Stimme haben, ist es vielleicht die Aufgabe, der Welt eine alternative Vision aufzuzeigen und eine andere Erzählung als neue Perspektive auf die Wirklichkeit explizit zu erklären. Es geht um jeden Einzelnen: Denn der Übergang, den wir durchmachen, ist nicht nur ein Übergang in unseren Konzepten, unserer Wahrnehmung oder unserer Art, die Welt zu verstehen. Er ist auch ein Übergang in unseren persönlichen Entscheidungen und in unserem Seinszustand.

GvL: Das klingt erstmal sehr allgemein. Können Sie das an Beispielen klarer beschreiben?

CE: Nun, eine Möglichkeit, zur Veränderung unserer Geschichten beizutragen, besteht darin, die Geschichte schon zu leben, in die wir uns verändern wollen. Zum Beispiel mit Menschen, die empathisch, freundlich, großzügig und mitfühlend sind. Hier geht es einfach darum, Liebe in die Welt zu bringen. Man mag das vielleicht nicht als etwas „Politisches“ betrachten. Aber die Erfahrung, die andere dann machen können, hilft, sie in Menschen zu verwandeln, die leichter eine Geschichte der Verbundenheit akzeptieren. In dieser Geschichte der Verbundenheit verstehen wir: „Ja, die Natur der Welt ist ein Kreis von Geschenken.“ „Ja, es gibt mehr als konkurrierende Individuen.“ „Ja, es gibt etwas Bedeutsames, zu dem wir alle beitragen können!“

Damit will ich eigentlich sagen, dass unser persönliches Handeln in unseren Beziehungen, in unseren Gemeinschaften auch politisch ist, weil es die Grundbedingungen verändert, aus denen unsere Geschichten entstehen oder von denen unsere Geschichten angezogen werden. Das tägliche Leben wird von vielen Menschen wahrgenommen als ein Leben, in dem man wirtschaftlich ausgebeutet wird, in dem jeder und jede auf sich selbst gestellt ist, und in dem ich auf mich selbst aufpassen muss, weil da draußen niemand freundlich ist, niemand auf mich achtet oder mir gar in die Augen schaut. Wenn jemand immer wieder diese Erfahrung der Isolation und Trennung macht, dann wird er oder sie aus dieser Erfahrung heraus handeln, und wird sehr leicht an eine Geschichte glauben, die die Welt in diesen Begriffen der Isolation und Konkurrenz erklärt.

Ein neuer amerikanischer Traum

GvL: Das heißt, das alte Weltbild bestätigt sich selbst in einer Welt der Isolation. Wohin kann das führen?

CE: Jemand, der einsam, entfremdet, von sinnvoller Arbeit abgeschnitten oder wirtschaftlich verzweifelt ist, wird für faschistische Geschichten empfänglich sein, die sagen: „Hier ist die einzige Lösung, wir werden euch retten. Hier ist etwas, woran ihr glauben könnt. Hier hast du das Gefühl, dass du eine bedeutungsvolle Person bist, die zu etwas Bedeutungsvollem beiträgt.“ Genau das geschah in Deutschland in den 1930er-Jahren. Die Menschen waren verzweifelt, nicht nur wirtschaftlich, sondern nach der Demütigung durch den Ersten Weltkrieg waren sie auch verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn. Dann kam Hitler und sagte sinngemäß: „Ich sage euch, wer ihr seid: Ihr seid Teil dieser großen Rasse in dieser großen Nation.“

Die Menschen sind dafür empfänglich, wenn sie nicht miteinander verbunden sind, wenn sie als ungebildete Arbeiter und blinde Konsumenten behandelt werden, wenn sie unterdrückt werden. Das gehört zu den Grundvoraussetzungen des Faschismus. Und deshalb können wir auch in unseren täglichen Beziehungen die Menschen vor dieser Art von räuberischem Faschismus schützen. Ich sage nicht, dass wir nur das tun sollen und nicht auf politischer Ebene handeln sollen. Denn auf die Frage, was wir tun können, um eine neue Geschichte, ein neues Narrativ zu unterstützen, sage ich: Darauf gibt es eine Million Antworten. Und die großen Visionen und Massenaktionen sind untrennbar mit den kleinen Einzelaktionen verbunden. Sie sind alle Aspekte ein und derselben Revolution.

GvL: Was könnte ein neuer „American Dream“ sein. Oder geht es nicht mehr um „amerikanische Träume“? Müssen wir anders träumen und danach die Realität gestalten?

CE: Ich habe nichts gegen einen „American Dream“. Ich mochte das Konzept eines amerikanischen Traums einfach deshalb, weil jedes Land oder jede Kultur der Welt etwas Einzigartiges zu bieten hat. Jede Nation hatte ihre eigene Reise, ihr eigenes Trauma, ihre eigenen Niederlagen, ihre eigenen Siege, ihren eigenen Weg – so wie jeder Mensch, so wie jede Spezies in einem Ökosystem etwas Einzigartiges zu bieten hat, so gilt das auch für das Ökosystem der Nationen.

Amerika hat also der Welt etwas zu bieten. Sie fragen, was der neue amerikanische Traum ist oder welche Vision von Amerika ausgehen kann? Was wir letztlich zu bieten haben, ist die Erfahrung der Demütigung, die sich aus dem Scheitern unserer eigenen grandiosen Ambitionen ergibt. So ist es oft nach dem Zusammenbruch eines Imperiums: Nach dem Zusammenbruch eines Imperiums oder einer Niederlage in einem Krieg durchläuft diese Nation eine tiefe Seelensuche. Ich bin mir nicht sicher, was daraus entstehen wird, aber wir haben in Amerika eine einzigartige Art der Heilung vor uns.

Wenn wir diesen Prozess erfolgreich durchlaufen, kann das zum Geschenk an die Welt werden. Denn selbst wenn diese besondere Art der Heilung und die Notwendigkeit dafür in Amerika am akutesten ist, existiert diese Seelensuche doch in irgendeiner Form auch an vielen anderen Orten. Es ist also dasselbe Prinzip wie bei jedem Einzelnen: Jede Heilung, durch die Sie gehen, ist ein Dienst an allen, weil eine Art Echo dieser Heilung in jedem Menschen geschieht. Dasselbe gilt auch für Nationen. Ich müsste mehr darüber nachdenken, was der neue amerikanische Traum wäre. Aber ich weiß, dass dieser Traum aus dem Heilungsprozess hervorgehen wird, der uns einlädt und der uns umso stärker einlädt, je tiefer unsere Spaltungen und unsere Krisen werden. Das Geschenk der Krankheit ist die Heilung. Das Geschenk des Konflikts ist Frieden. Die Gabe der Verzweiflung ist eine neue Renaissance.

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Dr. Elizabeth Debold

For the last forty-some years, I have sought the answer to the question: how can we transform the dynamics of relationship and complexities of desire between women and men so that we all can thrive and reach our full human potential?

This inquiry has taken me from feminist activism in New York City to a doctorate in developmental psychology with Dr. Carol Gilligan at Harvard to a tumultuous global spiritual community that pioneered collective awakening and, finally, to an ongoing experiment in intersubjective emergence in Frankfurt, Germany.

I founded One World in Dialogue, an online forum to explore how intersubjectivity can bring us together across cultures to create new capacities in global consciousness. An author, transformative educator, journalist/editor, community leader and mentor, I have found the answer to my question in the amazing collective emergence of the Co-Conscious We and seek to share its potential in all that I do.