von Rüdiger Sünner
Lange habe ich überlegt, ob ich diesen Superlativ verwenden soll, aber das Buch »Im Unterland« des englischen Schriftstellers Robert Macfarlane zählt zu den zwanzig besten Büchern, die ich je gelesen habe. Macfarlane gehört zu den Vertretern des »Nature Writing«, die eine Naturbeschreibung praktizieren, die immer auch einen Bezug zu unseren Emotionen und Imaginationen herstellt. Der Autor entführt uns in tiefe Höhlen, Gruben, Schächte, unterirdische Stadtlabyrinthe und atomare Endlager, um uns auf eine Schicht unseres Lebens aufmerksam zu machen, die oft übersehen wird. Wir leben, so Macfarlane, vorwiegend in einer »horizontalen Weltsicht«, mit einem Blick »tradierter Flachheit«, der gerne das ausblendet, was unter unseren Füßen verborgen ist: »Das Unterland ist elementar für die materiellen Strukturen unserer Existenz ebenso wie für unsere Erinnerungen, Mythen und Metaphern.« So stellt das Buch auch ein ständiges Wechselspiel dar zwischen der realistischen Beschreibung unterirdischer Welten und dem Verweis auf Mythen z. B. von Unterwelt- oder Höllenfahrten, die diese Sphären immer schon imaginativ umkreist haben. All diese verborgenen Welten können Staunen und Bewundern auslösen, aber auch Angst und Schrecken; auch zwischen diesen Polen pendelt das Buch ständig hin und her. Auf jeder Seite lernen wir, dass die Beschränkung auf die sichtbare Oberfläche nur die halbe Seite der Welt offenbart und dass diese dringend ergänzt werden muss durch den Blick auf das Unsichtbare, Versteckte und Verdrängte.
Wenn wir mit Robert Macfarlane in das »Unterholz« unserer Wälder eintauchen, verstehen wir plötzlich, welche Bedeutung die weit ausgebreiteten Pilzgeflechte haben, die die scheinbar isoliert dastehenden Bäume mit Nährstoffen versorgen. Sie dienen auch als Alarmsysteme, um die Bäume z. B. vor einem drohenden Schädlingsbefall zu warnen. Macfarlane informiert uns darüber, dass dies bereits 1997 von der amerikanischen Waldökologin Suzanne Simard erkannt wurde, die lange vor den Bucherfolgen des deutschen Bestsellerautors Peter Wohlleben den Begriff des »wood wide web« prägte.
Ein solcher Blick in die Unterwelt erzeugt Gefühle der Freude und lässt uns das kooperative Verhalten der Natur bewundern, in der es nicht nur um das »survival of the fittest« geht. Ähnliche Gefühle bewirken Macfarlanes Exkursionen in das riesige Labyrinth unter der Stadt Paris, wo die Subkultur der »Cataphiles« – verborgen vor den Blicken der eleganten Oberflächenbewohner – eine eigene anarchistische Existenzform führt. Das Betreten dieser weitläufigen Tunnel, Grotten, Nischen und Kanäle ist verboten und wird durch spezielle Polizeieinheiten – den »Catacops« – geahndet, was Macfarlanes Streifzüge mit einem gewissen Nervenkitzel versieht. Begleitet von Kennern dieser Unterwelt zwängt er sich durch klaustrophobisch enge Schächte, watet durch knietiefes Wasser, um nach einigen Mühen in riesige palastartige Gewölbe zu gelangen, wo Musik gemacht wird und sich interessante Menschen austauschen.
Ähnlich euphorische Gefühle kommen auf, wenn der Autor nach strapaziösen Wanderungen die Kollhellaren-Höhlen auf den norwegischen Lofoten erreicht und dort plötzlich 3.000 Jahre alte Felsbilder erblickt, die ihn zu Tränen rühren. Was hatte die Menschen der Bronzezeit bewogen, so fragt er sich, derartig abseitige Bereiche aufzusuchen, um ausgerechnet dort ihren Göttern zu huldigen? Macfarlane erinnert sich in diesen Höhlen an den irischen Begriff der »thin places«, der Orte beschreibt, an denen die Grenze zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt durchlässiger wird. Es berührt ihn, dass die Urbevölkerung Skandinaviens, die unter harten Bedingungen leben musste, sich nicht davon abhalten ließ, ihre Höhlen mit leuchtend roten Tanzfiguren auszuschmücken, die Lebensfreude und ekstatische Vitalität verkörpern.
Ganz andere Empfindungen steigen auf, wenn wir dem Autor in die unzähligen Karsthöhlen Sloweniens folgen, die bis heute Orte des Schreckens geblieben sind. Tausende von Menschenknochen liegen hier immer noch herum, vor allem von den italienischen Besatzern, die dort während des Zweiten Weltkrieges von den slowenischen Partisanen zum Teil bei lebendigem Leib hinuntergestoßen wurden. Eine düstere Aura von Rache und Gewalt liegt noch heute über der von Raben, Murmeltieren und Steinböcken bewohnten friedlichen Landschaft. An Felsabhängen, die etwa »Schachtgrab des wilden Apfelbaums« heißen, findet Macfarlane auch Hakenkreuz-Zeichen, mit denen sich heutige nationalistische Gruppen immer noch der einstigen »Foibe-Massaker« rühmen, aber auch ergreifende Gedichte, die von der unsäglichen Qual der Opfer erzählen. »Das Problem besteht nicht darin«, schreibt der Autor, »dass Dinge in tiefen Schluchten versinken – sondern dass sie dort überdauern.«
Das gilt auch für tiefe Eisspalten in Grönland, in denen noch Treibstoffe, Giftmüll und radioaktiver Abfall schlummern, den die Amerikaner dort nach dem Zweiten Weltkrieg hinterlassen haben. Aus Angst vor der Okkupation Grönlands durch die Sowjets handelte die US-Regierung 1959 einen Deal mit Dänemark aus, der ihr erlaubte, unter dem Eis die Militärbasis »Camp Century« zu installieren, die von einem eigenen Atomreaktor mit Energie versorgt wurde. Man plante, 3000 km unterirdische Schienen zu verbauen, um Hunderte von Abschussrampen für Atomraketen installieren zu können. Nach ihrem Abzug 1967 ließen die US-Truppen 10.000 Tonnen Baumaterial, Abwässer, Dieseltreibstoffe, polychlorierte Benzole und nuklearen Müll dort liegen, der heute wegen der Klimaerwärmung langsam wieder ans Tageslicht gespült wird. Der Öffentlichkeit wurde das Lager erst 1997 bekannt. Das langsame Auftauchen von »Camp Century« ist ein furchteinflößendes Bild für das, was Freud die »Wiederkehr des Verdrängten« nannte und zwar sowohl geologisch als auch psychologisch. Robert Macfarlane erwähnt in diesem Zusammenhang auch den Begriff »Solastalgie«, der 2003 von dem Umweltphilosophen Glenn Albrecht geprägt wurde, um negative seelische Folgen der Zerstörung von heimischer Natur und Landschaft zu beschreiben.
Die dunkle Aura dieses Wortes schwebt auch über Macfarlanes letzter Unterweltfahrt, die ihn zu dem atomaren Endlager »Onkala« in Finnland führt, was übersetzt »kleine Höhle, Unterschlupf« heißt: eine krasse Verharmlosung, da diese Tunnelanlage während der nächsten 100.000 Jahre – angeblich sicher – hochgiftiges Uran speichern soll, das eine Halbwertszeit von vier Milliarden Jahren hat. Lange hat die Firmenleitung überlegt, wie man ein abschreckendes Design über dieses Lager bauen könnte, sodass sich in den nächsten Jahrhunderten niemand in seine Nähe traut. Konzepte von riesigen Dornenhecken, Betonklötzen, schwarzen Granitplatten oder von Abbildern schreiender Gesichter im Stil von Edvard Munch wurden in Erwägung gezogen, aber dann wieder fallengelassen, weil eventuell gerade dies Neugierige anziehen könnte. Macfarlane liest während seines Besuches in Onkala in dem finnischen Nationalepos »Kalevala«, wo er verblüffende Parallelen zu diesem dunklen Ort findet. Immer wieder handeln diese alten Mythen von gefährlichen Schätzen im Untergrund, die Macht verleihen, aber gleichzeitig auch Unheil bringen können. Einmal steigt der Held Väinämöinen – in isoliertes Metall gehüllt – auf der Suche nach energiereichem Material selbst ins »Unterland«, das in Wirklichkeit der Rachen eines begrabenen Riesen ist, »aller Bösen Bleibe«. Macfarlane erschrickt über die symbolische Weisheit der alten Texte, die schon ahnten, dass der Mensch immer wieder mit gefährlichen Dingen spielt, die am Ende eine bleibende Bedrohung darstellen können.
Als der Autor das Lager verlässt und mit einem Reifenschaden in der schneidenden Kälte des finnischen Winters liegenbleibt, kommt zufällig ein Arbeiter von Onkalo mit seinem Wagen vorbei und repariert alles. Auf den überschwänglichen Dank Macfarlanes, der schon Angst hatte, in der Schneewüste zu erfrieren, antwortet der Arbeiter nur: »›Gar kein Problem (…).‹ Mit einem Tuch wischt er sich Öl und Fett von den Fingern. Er streckt die Hand aus, die ich dankbar schüttle, dann fahren wir nacheinander in die Dunkelheit davon.«
Robert Macfarlanes »Im Unterland« ist trotz beklemmender Szenen kein Buch, das einen mit Depressionen und in Angst zurücklässt. Es zeigt einfach, dass auch in der geologischen Tiefe – wie in unserem Unterbewusstsein – viele Dinge verborgen sind, die wir genauer anschauen sollten: ökologische Netzwerke voller Weisheit, spirituelle Kunstwerke früher Menschen, echte Schätze und kreative Impulse, aber eben auch das Dunkle und Verdrängte, das wir lieber entsorgen wollen. Die enorme Farbigkeit von Macfarlanes Sprache, die zuweilen funkelt wie das blaue Eis, dem er auf seinen Gletscherwanderungen begegnet, verschafft dem Leser viele euphorische Tiefblicke in die Magie der Unterwelt, die so zugänglicher wird und dadurch auch etwas von ihrem drohenden Bann verliert.