von Benedikt Maria Trappen
„Es gibt keinen Zufall; alles, was geschieht, hat Bedeutung.“ (F.W. Nietzsche, Mai 1861).
„Spiegel im Spiegel“ war das erste Musikstück des estnischen Komponisten Arvo Pärt, das
mir Christoph Maria Frisch, der saarländische Künstler und Freund, eines Abends Ende der
achtziger Jahre vorspielte. Die Schönheit der wenigen, langsam und leise dahinfließenden
Klavier- und Geigentöne berührte mich tief und war Beginn der Offenbarung einer
musikalischen Welt, die den Bedürfnissen meiner Seele sehr genau entsprach. Etwa in diese
Zeit fiel auch die Entdeckung des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij, dem Arvo Pärt „Arbos“ gewidmet hat.
Der November 1989 wurde, in merkwürdiger Entsprechung zu den damaligen politischen Ereignissen, der Beginn einer radikalen existentiellen Krise, die mich, noch vor Abschluss meines Philosophiestudiums, ein weiteres Studium beginnen ließ und, der Einladung eines griechischen Freundes folgend, über Berlin nach Athen und Kreta führte. 1990 war Arvo Pärt, der Estland, damals noch Republik der Sowjetunion, 1980 nach einer tiefen Krise und dem Ausschluss aus dem sowjetischen Komponistenverband verlassen hatte und über Wien nach Berlin gekommen war, in Deutschland offensichtlich noch so wenig bekannt, dass die Berliner Adresse im Telefonbuch stand. Mit der S-Bahn machte ich mich auf den Weg zu diesem Seelenverwandten und hinterließ, als niemand auf mein Klingeln reagierte, eine kurze Nachricht im Briefkasten. Fisch und Sonne, zwei der mir bedeutsamsten Symbole, fügte ich hinzu. Am Abend klingelte das Telefon in meiner Berliner Wohnung. Nora Pärt entschuldigte Ihren Mann, der gerade nicht in Berlin war, fragte, ob ich Musiker sei und erkundigte sich über mein Leben. Bei meiner Rückkehr nach Deutschland fand ich in der Post zu meiner Überraschung mit großer Freude die von Arvo Pärt signierte LP „Tabula Rasa“ – neben einem mit Widmung versehenen literarisch-grafischen Blatt von Reiner Kunze und Heinz Stein aus dem Jahr 1981 mein zweiter großer Schatz. Immer und immer wieder sog ich diese vollkommene Musik auf, die Spiegel war meiner Seele, Trost, Richtung, Ermunterung, Schönheit, Fülle, Ruhe, Stille, Friede. Musik war mir inzwischen so bedeutsam geworden, dass ich ernsthaft überlegt hatte, Musiktherapeut zu werden und Musik neben Grundschulpädagogik dann als zweites Fach studierte. Ich hatte die Prüfung mit der Gitarre und in Chorleitung bereits hinter mir, als mir klar wurde, dass ich für Gehörbildung und Harmonielehre deutlich mehr Zeit investieren müsste, als ich für dieses zweite Studium vorgesehen hatte, das mich nach den ausgedehnten interessegeleiteten philosophischen, literarischen, theologischen und psychologischen Studien der achtziger Jahre endlich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit verankern sollte. Ich tauschte Musik gegen Deutsch, nahm überwältigt zur Kenntnis, wie viel mir aus dem ersten, inzwischen abgeschlossenen Studium anerkannt wurde und erhielt nach dem zweijährigen Vorbereitungsdienst 1995 eine
Planstelle.
Im September 2002 – ich hatte inzwischen ein Haus gekauft, war Schulleiter geworden und
nach dem tragischen Scheitern einer Ehe alleinerziehend mit zwei Kindern – wurde „Tabula
Rasa“ zur Brücke zu meiner zweiten Frau, Hille, die, aus Estland stammend und seit vielen
Jahren immer wieder in einer Familie im selben Dorf wohnend, Christoph Maria Frischs
„Tage des offenen Ateliers“ bei uns besuchte. Im Oktober 2003 heirateten wir, und im
Sommer 2004 reiste ich erstmals nach Estland. Im August 2006 kam unsere Tochter Nora zu den Klängen von „Alina“ und „Spiegel im Spiegel“ zur Welt. Und während der Trauerfeier für meinen verstorbenen Vater erklang im Dezember 2010 „Da pacem domine“. Vergeblich
bemühte ich mich 2014 um ein Gespräch mit Arvo Pärt für „Aufgang“, das von José Sánchez
de Murillo herausgegebene Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, konnte dann aber mit Hilfe meiner Frau die estnische Musikwissenschaftlerin Saale Kareda für einen Vortrag über die Musik Arvo Pärts im Rahmen der Tagung „Musik und Spiritualität“ 2014 in St. Ottilien gewinnen. 2016 ließ ich Arvo Pärt mein Buch „Der Himmel ist auch die andere Erde“ zusammen mit den Gedichten und Übersetzungen Reiner Kunzes zukommen, und er bedankte sich zu meiner großen Freude mit der von Manfred Eicher zusammengestellten CD „Musica Selecta“ mit handschriftlicher Widmung. Sie ist inzwischen die am häufigsten gehörte CD.
Während meiner zahlreichen Aufenthalte in Estland haben wir immer wieder auch Orte und
Stätten besucht, die mit dem Leben und Werk Arvo Pärts verbunden sind: Paide, Rakvere,
Tallinn, Käsmu, Laulasmaa. In Laulasmaa schauten wir uns im Sommer 2018 kurz vor der
Eröffnung das mitten in einem Pinienwald gelegene neu errichtete Arvo-Pärt-Centrum von
außen an und steckten einige literarisch-grafische Blätter von Heinz Stein und mir in den
Briefkasten des Hauses Alina. Am 25. April 2019 fuhren wir noch einmal nach Laulasmaa, um das Arvo-Pärt-Centrum auch von innen zu sehen. Glas, Holz und Metall verbinden sich in dem geglückten architektonischen Entwurf von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano
mit der Natur und Elementen der Musik Arvo Pärts zu einem wunderbaren Ort spiritueller Erfahrung, schöpferischer Energie, Einsamkeit und Begegnung, der Transparenz, Stille und Leere.
Wir hatten die weiten lichten Räume gerade einmal durchschritten, die großzügige Bibliothek mit dem Kaminofen, den kleinen Vortragssaal mit dem Piano, die kleine, noch unfertige Kapelle und den für die Öffentlichkeit noch unzugänglichen Turm bewundert und fotografiert – nur der Konzertsaal war durch eine Veranstaltung belegt – als Nora mich mit den Worten „Das ist er doch!“ auf einen leicht gebückt gehenden Mann mit Tasche im Mantel aufmerksam machte, der gerade dabei war, durch eine Tür in den Backstage-Bereich zu verschwinden. „Herr Pärt, Herr Pärt“.
Er hielt inne, wandte sich um, hatte die Anrede möglicher Weise aber nicht richtig gehört und war durch die Situation verunsichert. Überrascht und erfreut machte ich einige Schritte auf ihn zu. „Herr Pärt, Herr Pärt!“ Er blieb stehen und schaute mich an. „Mein Name ist Benedikt Maria Trappen“, sagte ich und reichte ihm die Hand. Seine Mine hellte sich auf. „Ah. Sie müssen laut sprechen, ich höre nicht gut.“ Ich stellte ihm unsere Tochter Nora und meine Frau Hille vor und erklärte kurz, dass wir gerade aus Pärnu gekommen waren, um das Centrum nun auch von innen zu sehen. Inzwischen waren die Teilnehmer der Veranstaltung aus dem Konzertsaal gekommen. „Sie waren bei der Eröffnung da?“ – Ich scheute mich, lauter zu sprechen, merkte aber, dass ein Gespräch so nicht möglich war. „Ich komme mir vor wie unterwegs in einer anderen Zeit, und Bach begegnet mir gerade…“, dachte ich laut. – „Oh, Bach…Ich habe vor Jahrzehnten ein Stück geschrieben „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte“. Das ist nicht wirklich gut. Aber jetzt habe ich etwas Neues geschrieben…vor fünf Minuten habe ich es beendet, hier…“ – Er klopfte vorsichtig mit der flachen Hand auf seine Tasche. „Wunderbar“, antwortete ich, „wunderbar…“. – „Man müsste Ihnen alles zeigen hier… Ich habe leider keine Zeit…“. – „Nein, nein“, wehrte ich ab, „das ist gar nicht nötig. Wir wollen Sie nicht aufhalten. Aber – darf ich Sie fotografieren?“ – „Fotografieren, mich? Nein, nein. Alle, alle zusammen.“ Er schaute sich nach einem geeigneten Ort um, machte einige suchende Schritte auf das Glas zu und kam zurück. Meine Frau fotografierte. „Kommen Sie“, winkte er ihr zu, wir machen ein Selfie. Alle zusammen. Sie kennen das, „Selfie“?“ – Meine Frau machte ein zweites Bild, kam zu uns und bat Nora, ein weiteres Bild zu machen. Ich versuchte, das Gespräch noch einmal aufzunehmen. „Adams Passion ist eine großartige Inszenierung, „Sequentia“ ein wunderbares Stück…“ – „Sie waren in Tallinn?“ – „Wir haben den Film gesehen.“ – „Sie haben den Film gesehen? Hier? Über unsere Arbeit?“ – „Nein….“ – „Den müssen Sie unbedingt sehen!“ Inzwischen beobachteten einige der Umherstehenden interessiert die Szene, andere fotografierten. Ich schaute Arvo Pärt noch einmal aufmerksam und dankbar an und drückte ihm fest die Hand. Dann gingen wir in den kleinen Filmsaal. Wir waren die einzigen Zuschauer. Bis auf wenige Szenen kannte ich den gut gemachten, interessanten biografischen Film nicht.
Als wir den Filmsaal verließen, war die Menge wieder im Konzertsaal verschwunden. Wir gingen noch einmal aufmerksam durch alle Räume, verließen das Centrum und fuhren nach Keila Joa. Der Wasserfall führte deutlich mehr Wasser als im Sommer. Der Fluss strömte kraftvoll dahin. Am Ufer blühten blau, gelb und weiß Blumen. Eine blaue Schlange lag reglos geringelt im Laub. Das Rauschen des Wassers, das Zwitschern der Vögel, Schritte, Stimmen, Geräusche: Alles war erfüllt von einer tiefen Ruhe, Stille, einem tiefen Frieden. Nichts, was zu sagen gewesen wäre. Mehr als alles. Nichts.
Alle Fotos von Benedikt Maria Trappen.