Aufwachen und Aufwachsen: Entwicklungsstufen eines höheren Bewusstseins
Thomas Steininger im Dialog mit Dr. Susanne Cook-Greuter
THOMAS STEININGER: Wenn heute über höheres Bewusstsein gesprochen wird, sind meist die spirituellen Erfahrungen des „Aufwachens“ und erweiterte Bewusstseinszustände gemeint. Andererseits ist die ganze Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen eine Höherentwicklung. Wie würden Sie diesen Unterschied zwischen dem „Aufwachen“ in spirituellen Bewusstseinserfahrungen und dem „Aufwachsen“ in der psychologischen Entwicklung beschreiben?
SUSANNE COOK-GREUTER: Wir alle haben die Entwicklung vom Kleinkind zum Schulkind zum erwachsenen Menschen durchlaufen. Im Verlauf dieser Entwicklung können wir immer mehr Bereiche der Welt einschließen. Wir entwickeln zudem eine immer größere Distanz oder Objektivität gegenüber unserer eigenen Erfahrung. Wir lernen, in einer Weise zu handeln, die das Ganze, in das wir eingebettet sind (die Familie, unsere Religion, die Nation, die Welt), berücksichtigt.
Das individuelle Aufwachen zu einer spirituellen Erkenntnis ist aber etwas ganz anderes. Wie Sie schon erwähnt haben, können wir dieses Erwachen durch Praktiken wie Meditation oder auch in tiefen Einheitserlebnissen in der Natur oder in der Kunst erfahren.
TS: Welche Beziehung besteht Ihrer Ansicht nach zwischen diese beiden Formen von höherem Bewusstsein?
SCG: Auf den höheren Entwicklungsstufen finden wir eine zunehmend intensivere Beziehung zwischen diesen beiden Formen. Wenn wir erwachsen sind und uns auf den späteren Stufen der Selbstentwicklung befinden, können wir uns selbst beobachten und wir verwenden sehr viel Zeit mit Selbstanalyse. Dabei können wir auch in eine meditative Erfahrung kommen, in der wir beobachten, dass die Gedanken wie Wolken vorbeiziehen und nichts Festes sind. Wir können auch Emotionen, an die wir uns sonst klammern, beobachten. Hier öffnen wir uns also schon einer spirituellen Dimension des Gewahrseins.
TS: Ich möchte noch einmal auf den Begriff des Aufwachsens zurückkommen. Wir haben alle eine allgemeine Vorstellung davon, was es bedeutet, erwachsen zu sein: autonom, Ich-bewusst, rational. Wenn ich Sie und Ihr Modell richtig verstehe, sagen sie, dass das Aufwachsen hier nicht aufhört.
SCG: Ganz genau! Das sagen die meisten neueren Entwicklungsmodelle. Vor 50 Jahren entdeckte der Schweizer Psychologe Jean Piaget, dass Kinder nicht einfach unfertige Erwachsene sind, sondern auf ihre eigene Weise Sinn im Leben schöpfen und aus ihren Erfahrungen ein Weltbild formen. Er konnte erforschen und beobachten, wie das stufenweise vor sich geht, und hat das sehr genau beschrieben. Im Laufe der Entwicklung können Kinder immer mehr von der Welt sehen und verstehen. Zu seiner Zeit war das total neu. Seit den 1960er und 1970er Jahren wurde weiter erforscht und wir haben herausgefunden, dass Erwachsene nicht zwangsläufig im Alter von 20 Jahren aufhören zu wachsen, sondern sich weiter entwickeln können.
TS: Wohin entwickeln wir uns dann? Dem Alltagsverständnis nach ist mit dem Erwachsensein die Phase des Aufwachsens beendet. Sie haben die Arbeit von Piaget insofern weitergeführt, dass Sie sagen, dass es noch mehr Entwicklungspotenziale für Erwachsene gibt. Was ist dieses „Mehr“?
SCG: Als Erstes können wir entdecken, dass unsere Weltsicht, unsere Selbst-Identifikation, unsere Ziele und Werte durch unsere Sozialisierung in der jeweiligen Kultur und Gesellschaft geformt wurden. Bis zur höchsten konventionellen Stufe werden diese Annahmen nicht hinterfragt. Wir nehmen einfach die Ideen der Gesellschaft an, in der wir aufgewachsen sind. Der erste Schritt darüber hinaus ist die erste postkonventionelle Stufe, auf der man anfängt, sich zu fragen: Woher habe ich diese Ideen? Weshalb haben anderen Menschen und Kulturen unterschiedliche Ideen? Wir entwickeln eine Faszination über die Vielfalt, die wir plötzlich entdecken.
TS: Ist das die erste Stufe, die Sie individualistisch nennen würden?
SCG: Oder pluralistisch. Der Ausdruck „individualistisch“ hat in vielen Sprachen einen negativen Beigeschmack, weil er mit egozentrisch gleichgesetzt wird. Letzteres ist hier nicht gemeint. Individualistisch ist diese Stufe im Sinne von „Freude an der eigenen Sinngebung finden und sie erforschen“. Vorher war mein Interesse nach außen gerichtet: Ich will die Welt besser machen. Jetzt will ich mich selbst besser machen, und ich finde ein intensives Interesse an meiner Innenwelt. Wir beginnen hier mit einer intensiven Selbstuntersuchung. Fragen, wie „Was für Ziele habe ich?“, „Wie kann ich mich verwirklichen?“ werden hier wichtig. Wir wollen wissen, wer wir eigentlich sind. Das ist ein psychologisch tieferes Interesse am Menschsein als auf den Stufen vorher.
TS: Und darüber hinausgehend formulieren Sie eine weitere Stufe, die Sie als „autonom“ oder als „Synthese“ bezeichnen.
SCG: Ja, diese Stufe geht über die vorherige individualistisch/pluralistische Stufe hinaus. Dabei ist die Hauptmotivation zu dieser Weiterentwicklung das Leiden am Relativismus, den wir auf der pluralistischen Stufe entwickeln. Denn durch individuelle Selbstreflexion haben wir unsere Unterpersönlichkeiten kennengelernt und wir wissen, dass wir uns in viele Richtungen entwickeln können, so viele Möglichkeiten stehen uns offen. Das ist einerseits wunderbar, aber wir stellen uns auch die Frage: Was ist mein wirkliches Selbst in dieser Fülle von Möglichkeiten? Worauf kann ich mich eigentlich verlassen? Wir finden uns ständig in neuen Situationen und uns fehlt das Selbstverständnis, das wir brauchen, um uns zwischen den vielen Möglichkeiten zu entscheiden.
Auf der nächsten Stufe – im autonomen Selbst – fühlen wir uns eingebettet in einem größeren Zusammenhang, in einer geschichtlichen und globalen Perspektive, die mir jetzt einen neuen Haltepunkt eröffnet, um zu verstehen, wer ich bin und wie ich handeln kann. Jetzt werden die grundlegenden Prinzipien, die Kohlberg in seiner „Moralentwicklung“ beschrieben hat, zu wichtigen Wegweisern.
TS: Könnte man das auch so formulieren, dass dieser Sprung, den Sie gerade beschreiben, die Entdeckung eines evolutionären Bewusstseins ist, wenn ich erkenne, dass meine Persönlichkeit kulturell, geschichtlich und sogar kosmologisch bedingt ist?
SCG: Das ist eine zusätzliche Entdeckung, die man auf dieser Stufe zum ersten Mal macht. Wir erkennen, dass wir in einem Entwicklungszusammenhang leben: Wir sehen unsere eigene Entwicklung und die Entwicklung der anderen. Dadurch können wir uns besser auf die Stufe des anderen einstellen. Die vorherigen Stufen, inklusive dem Individualist/Pluralist, tendieren zu einem Fühlen und Denken, das insgeheim fordert: „Wenn nur alle anderen so wären wie wir, dann wäre die Welt besser.“ Erst mit dieser neuen Stufe versteht man, dass jede Stufe ihre Schattenseiten hat.
TS: Ich sehe also nicht nur die Stufe, auf der ich gerade bin, sondern ich erkenne die ganze Entwicklungslinie mit all ihren Stufen.
SCG: Genau. Die Wissenschaftler drücken es so aus: Zum ersten Mal erkenne ich das ganze System; ich sehe das Ganze und erfahre mich als ein Teil von etwas Größerem.
TS: Auf der individualistischen/pluralistischen Stufe entdecken wir also die Vielfalt des Individualismus. Wir begegnen aber auch seiner Schattenseite des Relativismus, wo sozusagen „alles nur relativ ist“. Können wir in der weiteren Entwicklung einen neuen Kontext finden, in dem sich dieser Relativismus einbinden lässt?
SCG: Ja, das wird möglich, wenn ich auf der autonomen Stufe das größere System und eine umfassendere Perspektive erkennen kann. Ich sehe mich dann im Kontext der Geschichte unserer Entwicklung und entwickle eine globale Empfindsamkeit, in der ich viel tiefer mit anderen Menschen verbunden bin.
TS: Würden Sie sagen, dass wir kulturell gesehen in den westlichen Ländern auf dieser Entwicklungsstufe sind, in der wir zum ersten Mal diese autonome oder synthetische Stufe auch als kulturelles Phänomen wahrnehmen können?
SCG: Ich glaube, dass viele Menschen das verstehen, aber es wird nicht unbedingt gelebt. Eine der Grundideen von Entwicklungstheorien besagt, dass gute Landkarten, mit denen man etwas zuerst kognitiv oder mental versteht, einem auch beim langsameren Prozess des Aufwachsens helfen, wobei neue Ideen wirklich integriert und gelebt werden. Ich würde nicht sagen, dass wir auf kultureller Ebene schon soweit sind.
Aber wenn jemand diese Ideen versteht, geschieht etwas Schönes und Hoffnungsvolles. Wenn Menschen diese höhere Möglichkeit – die umfassende Perspektive, die sie verstehen – beschreiben, kann von ihr ein Zug ausgehen. In meinen Gesprächen und Coachings erlebe ich das immer wieder: Der Mensch will mehr von dem werden, was er bereits beschreiben kann.
TS: Aus dem Verständnis entsteht also ein Zug, den eigenen Schwerpunkt auf diese höhere Ebene zu verlagern?
SCG: Ja, dazu gehört auch, dass ich mir Mentoren suche, die diese größere Perspektive schon leben und die mir Feedback geben können. Hilfreich ist auch eine Gruppe von Menschen, in der diese Perspektive gelebt wird. Und ich nehme eine neue Praxis wie zum Beispiel Meditation an, weil ich spüre, dass sie mich bei dieser Entwicklung unterstützt.
TS: Spirituelle Praxis als Praxis des Aufwachens ist ein Weg zur Erfahrung von Einheit, in der ich über das getrennte Ich hinausgehe und mein Nicht-Getrennt-Sein direkt erkenne.
Wenn wir den Entwicklungsimpuls in uns spüren, wie sie es eben so schön beschrieben haben, und uns in einem Entwicklungszusammenhang erkennen, würden Vertreter einer evolutionären Spiritualität sagen, dass auch hier ein Aufwachen geschieht: Ich beobachte den Entwicklungsimpuls nicht nur, sondern erkenne, dass ich nicht von diesem evolutionären Impuls getrennt bin. Mein menschliches Bewusstsein ist Teil dieses Entwicklungsimpulses des Bewusstseins.
Auch hier gibt es also diesen Umschwung vom Verstehen zum Leben. Ich nehme den Entwicklungsimpuls nicht nur wahr, ich verlagere meinen Schwerpunkt auf diese Ebene der Bewusstheit. Und dadurch wird meine eigene Identität radikal erweitert. Ich sehe, dass dieser Entwicklungsimpuls nicht äußerlich von mir ist.
SCG: Mit der autonomen Stufe entwickeln sich ein tieferes Verständnis und eine viel tiefere Erfahrung der Verbundenheit mit dem Ganzen des Lebens. Hier erwacht auch ein tiefes Verantwortungsgefühl. Diese Erfahrung der Verbundenheit und Verantwortung wird auf der nächsten Stufe, die ich als „konstruktbewusst“ oder „Synergist“ bezeichne, noch vertieft. Wir erfahren uns jetzt wirklich als Teil des Universums, es nicht mehr nur eine Idee oder kognitive Erkenntnis. Hier fängt man an noch tiefer zu fragen, als auf der Stufe der Individualität: Wieso denken wir Menschen so, wie wir denken? Weswegen ist die Welt so, wie sie ist? Wir versuchen also, uns in der Welt zurechtzufinden und beschäftigen uns mit diesen Grundfragen.
Dabei kann man zu der Einsicht kommen, dass Gegensätze auf künstlichen Trennungen beruhen. Im Grunde genommen ist auch das Selbst, das man über die Jahre gepflegt und entwickelt hat, eine Illusion. Es gibt keine Trennung und mit jedem Atemzug verändere ich mich und werde neu.
Und an diesem Punkt folgt der der Übergang zur höchsten Stufe, die ich „einheitlich“ oder „Unitarier“ nenne. Hier kommt diese Überwindung der Trennung voll zur Geltung. Hier verstehen wir, dass das Selbst und das Ego ein notwendiger Aspekt des Menschseins sind, von dem man sich aber nicht dominieren lassen muss. Wir können das Ego aus einem „Zeugenbewusstsein“ beobachten, wir können es begleiten, manchmal bewusst benutzen oder loslassen. Es ist nicht mehr die einzige Art, die Welt zu sehen. Und an diesem Punkt kommen das Aufwachsen und das Aufwachen zusammen.
Susanne Cook-Greuter, Gründungsmitglied von Ken Wilbers Integral Institute (I-I) und Ko-Direktorin des Psychology Centers (I-I) und Ehrenpräsidentin der Integralen Akademie (DIA), ist eine international anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Erwachsenen-Entwicklung. Sie erwarb ihren Doktortitel an der Harvard University für die Entwicklung eines Testing-Instruments zur Messung höherer Bewusstseinsstufen (SCTi) für den sie empirische Daten von über 4000 Personen ausgewertet hat.