«Ich ergreife Partei für das Organische»
Die Ausgabe 10 von evolve wurde mit Arbeiten des Künstlers Raimer Jochims gestaltet. Wir sprachen mit ihm über seine künstlerische Arbeit.
Raimer Jochims empfing mich zum Interview in Hochstadt in der Nähe von Frankfurt, wo er mit seiner Frau und Freunden in einer christlichen Wohngemeinschaft zusammenlebt. Von der Hauptstraße mit den alten Fachwerkhäusern trete ich einen weiten Hof mit Garten, der etwas Klösterliches hat. Gleich sehe ich Raimer Jochims, er arbeitet gerade im wahrsten Sinne seelenruhig an einem Stein. Sobald er mich sieht, kommt er auf mich zu, ein älterer, vital wirkender großer Mann. Er führt mich in sein Haus und bietet mir einen Tee aus selbst geernteten Gartenkräutern an. Auch unser Gespräch verläuft in einer Atmosphäre der Seelenruhe, die in mir noch Tage später nachwirkt – ebenso wie viele seiner Erkenntnisse und Erfahrungen aus einem langen Künstlerleben.
evolve: Was ist das Anliegen Ihrer Kunst?
Raimer Jochims: Ich arbeite mit verschiedenen Materialien: Ich male Bilder, klopfe Steine, zeichne, mache Papierarbeiten und Malbücher. Dabei ruhe ich mich beim einen von dem anderen aus. Das ist ein altes jesuitisches Motto, das mir schon immer sehr gefallen hat. Also nicht der Wechsel zwischen Arbeit und Urlaub, sondern eine Arbeit in Ruhe und dann eine andere Arbeit in Ruhe.
Meine Arbeiten sind keine rechteckigen Bilder, sondern Formen der Farbe. Es geht mir darum, die Farbe in Form zu bringen. Die Farbe ist nicht rechteckig, das kann mir niemand einreden. Farbe ist Bewegung, Farbe ist Leben, das Leben ist farbig. Und ich habe mich schon früh mit dem geringst geschätzten Material unserer Zeit beschäftigt, mit der Spanplatte. Im Unterschied zu den alten Holzbildern, wie den Ikonen, arbeitet die Spanplatte nicht, also sie verzieht sich nicht. Das ermöglicht mir eine reine Flächigkeit. Diese Flächigkeit wird bei mir radikalisiert, hinzukommen die Farbverläufe, die Räumlichkeit und Bewegung thematisieren. Meine Bilder male ich mit Acrylfarben, auch hier also ein neues Material, das ich so einsetze, damit ich das, was ich vor mir sehe, optimal realisieren kann. Ich male meine Bilder in mehreren, sehr dünnen Schichten, halb deckend bis lasierend, mit Pinsel und mit Spachtel.
Bei Spanplatten fiel mir immer auf, dass sie dort interessant werden, wo sie brechen. Meine Formen breche ich mit einer Zange aus der Spanplatte. Und wenn die Spanplatte so in eine Form gebracht und mit Farbe bedeckt wird, dann heilt die Farbe das Material. Die Farbverläufe, das Organische, das Ineinanderfließen der Farben heilt die Starre des Materials.
Bevor ich mit einem Bild beginne, existiert die Form in meiner Vorstellung. Ich breche Formen, die nicht geometrisch sind und für die es keine Vorbilder gibt. Und dann prüfe ich die Form, ob sie passt, ob Form und Farbe sich vertragen, ob sie ein Paar sind, ob sie «zusammen ins Bett gehen». Diese Annäherung ist bei jedem Bild neu. Das Brechen ist eine sehr behutsame Arbeit, denn was einmal weggebrochen ist, kann man nicht mehr zurückbringen.
evolve: Wenn man Ihre Arbeiten anschaut, hat dieser Dialog von Form und Farbe auch etwas sehr Organisches oder Prozesshaftes.
Raimer Jochims: Ja, das Wort «organisch» ist mir sehr wichtig. Mir geht es um organische Formen der Farbe. Die organische Welt ist ja heute sehr bedroht, durch das Einschlagen der Urwälder, das Sterben der Tiere. Deshalb ergreife ich mit meinen Arbeiten Partei für das Organische.
Die zentrale Frage für meine Arbeit ist: Was fördert Leben? In meiner Arbeit ist es die Farbe, denn ich male immer Farbverläufe. Diese Verläufe sind Leben. Alles, was wir erleben, geschieht in Verläufen. Zu den täglichen Verläufen gehört für mich die Dämmerung, das ist für mich ein großes Glück. Auch Essen und Trinken sind Verläufe. Ich bin heute 80 Jahre und das Alter ist auch ein Verlauf, der mich zu bestimmten künstlerischen Arbeiten provoziert. Für mich ist alles, was ich tue, sehr lebens- und alltagsbezogen. Deshalb lebe ich heute auch auf dem Dorf – in der Stadt war mir der Erdbezug zu schwach.
Das Leben zu fördern, hat für mich auch mit Gemeinschaft zu tun. Wir wohnen hier als kleine christliche Wohngemeinschaft zusammen. Diese Gemeinschaft zu pflegen, schätze ich sehr, sie wirkt der Selbstvereinsamung entgegen. Das sehe ich auch bei der Malerei oder beim Klopfen der Steine, das sind auch Zeichen für Gemeinschaft.
evolve: Gemeinschaft in welchem Sinne?
Raimer Jochims: Gute Frage. Es gibt ja nicht nur die Gemeinschaft unter uns Menschen, sondern auch die mit Pflanzen und Tieren. Der Gemeinschaftgedanke ist in der Zerfallsgesellschaft, in der wir leben, von überragender Bedeutung. Und jeder und jede muss für sich herausfinden, wie Gemeinschaft gepflegt werden kann. Wie kann man Gemeinschaft aufbauen, was ist zu tun und zu lassen? Das fängt beim Kochen an, das ist die Vergemeinschaftung mit den Speisen. Die Speise geht ein in uns und wird dann auf wunderbare Weise integriert, verarbeitet und umgesetzt in Lebenskraft. Ein weiteres Beispiel: Wenn man ein Buch liest oder im Internet surft, eignet man sich etwas von anderen an, das einen bereichert. Auch das ist eine Form von Gemeinschaft. Darüber hinaus hat die Gemeinschaftsbildung auch eine politische Dimension, denn heute sind wir im Begriff, eine Weltgemeinschaft zu werden. Wir im Westen können es uns auch nicht mehr leisten, auf Kosten der anderen unseren Wohlstand und unser Glück finden zu wollen.
evolve: Gibt es auch in Ihrer Kunst eine politische Dimension?
Raimer Jochims: Ich sehe das Politische in meiner Arbeit als sehr wichtig an, aber es sind Aspekte, die mit Parteienpolitik nicht viel zu tun haben. Die offene Bildform zeigt eine Haltung, die ich allen Menschen wünsche. Eine Haltung der Nicht-Parteilichkeit oder nicht vorschnellen Parteilichkeit.
Wir haben heute das erstaunliche Phänomen, dass Deutschland mit den vielen, vielen Immigranten fertig zu werden versucht. Auch eine besondere Form von Gemeinschaftsbildung. Ob es uns gelingt, wage ich nicht zu sagen, aber es ist eine sinnvolle Aufgabe. Mehr als eine sinnvolle Aufgabe, es wird von uns gefordert, dass diejenigen, denen es gut geht, denjenigen, denen es schlechter geht, helfen sollen. Das gilt in allen Kulturen der Erde.
Aber um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen wir als Menschen eine innere Arbeit tun. Das ist für mich auch in der Kunst eigentlich die entscheidende Dimension.
evolve: Was meinen Sie mit innerer Arbeit?
Raimer Jochims: Es ist im Grunde eine Frage der Lebensführung: Wie ist das Leben zu führen? Das scheint mir die entscheidende Frage für alle Künstler zu sein. Nur die Kunst hat gesellschaftlichen Wert, die aus einer verantwortbaren Lebensführung herauswächst.
Wir sind heute so frei, wie nie zuvor. Die Künstler können machen, was sie für richtig halten. Viele machen nur das, was sich auf dem Kunstmarkt verkauft. Aber daran zu arbeiten, den eigenen Weg zu finden und zu gehen, halte ich nach wie vor für sehr wichtig – sehr, sehr wichtig. Henri Matisse hat einmal gesagt: «Sich selbst ausdrücken.» Ganz schlicht. Bei der enormen Freiheit, die wir hier in Europa erleben, ist dieser eigene Ausdruck ein lohnender Weg, denn jeder Künstler ist ein einmaliges Individuum mit einer einmaligen Geschichte.
Viele Kunstprofessoren lassen ihre Studenten heute machen, was sie wollen und reagieren dann darauf. Quasi eine Hebammentätigkeit: Die Studenten bringen ihr Kind zur Welt und man wiegt es in den Armen, legt es in die Wiege und füttert es. Das halte ich nicht für verkehrt, aber auch nicht für ausreichend. Ich glaube, dass ich als Hochschullehrer die Aufgabe hatte, auch die Reflexion der Studenten über die eigene Arbeit so weiterzuführen, dass sie an ihre eigenen Grenzen kommen und daran arbeiten und nicht im «Hinterland» und mit dem Blick auf Galerien und den Verkauf.
evolve: Wie haben Sie versucht, Ihren Studenten dieses «über die eigenen Grenzen Gehen» zu vermitteln?
Raimer Jochims: Als ich als Rektor der Städelschule einmal Joseph Beuys traf, fragte er mich unvermittelt, «Jochims, wie lehren Sie eigentlich?» Ich erklärte ihm, dass ich den Studenten sage, dass sie sich zwei Lehrer suchen sollten: «Ein Lehrer bin ich jetzt für einige Zeit, aber sucht euch auch einen Alten Meister, der euch begleitet. Wenn ihr verzweifelt seid oder Probleme habt, dann stellt euch vor sein Werk und fragt: Wie hast du das gemacht? Ich verspreche euch, dieser Meister begleitet euch dann weiter, damit ihr nicht allein gelassen seid.» Beuys senkte seinen Kopf mit dem Hut und war eine ganze Weile still. Dann tauchte der Hut wieder auf und er sagte: «Für mich war es Caspar David Friedrich.» Er hat die Frage sofort auf sich selbst bezogen.
Meinen Studenten habe ich immer zu vermitteln versucht, dass die Grundlage der Kunst eine innere Arbeit ist, die mich in die Verfassung versetzt, Kunst zu schaffen. Die innere Arbeit ist der unsichtbare Teil des Eisberges, das künstlerische Werk die sichtbare Spitze. Konstantin Brâncuși, den sich sehr schätze, hat einmal gesagt: «Schwierig ist nicht, die Sachen zu machen», er meinte seine Skulpturen, «schwierig ist es, sich in die Verfassung zu bringen, sie machen zu können.» Für diese innere Arbeit braucht man Anleitung, für mich ist hier die christliche Tradition sehr wichtig. Und im Alltag stellt sich die Frage, wie man innere und äußere Arbeit verbindet. Im Titel Ihrer Zeitschrift «evolve» steckt ja das Wort Evolution. Es stellt sich also die Frage: Wie wird Evolution gefördert und nicht blockiert?
Ich glaube, das Wichtigste dafür ist die Stille, Zeiten der Stille und Nicht-Betriebsamkeit. Stille auszuhalten ist gar nicht so einfach, wie Sie sicher wissen. Aber nichts liegt näher und bietet sich mehr an. Wir haben hier auf unserem Hof eine kleine Kapelle als Ort der Stille eingerichtet. In solch einem Raum kann sich die Stille entwickeln. Ich denke, es ist sehr wichtig, solche Räume der Stille und inneren Arbeit zu schaffen. Es kann auf ganz verschiedenen Wegen geschehen und ist nicht an eine Religion gebunden. Brâncuși hat für diese Dimension im Alter folgende Worte gefunden: «Ich bin nicht mehr von dieser Welt, ich bin weit weg von mir selbst, nicht mehr an meine Person gebunden. Ich bin bei den essenziellen Dingen.»
In meiner Arbeit hat diese spirituelle Dimension eine große Bedeutung, aber auf der anderen Seite auch die sinnliche Dimension. In meiner Arbeit bilden Flächigkeit und Raum/Bewegung ein ähnliches Polaritätsverhältnis wie Sinnlichkeit und Spiritualität. Und ich glaube, die spirituelle Dimension und die Sinnlichkeit sind gleichermaßen wichtig und es geht darum, sie zusammenzuführen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke.
Raimer Jochims wurde 1935 in Kiel geboren und beschäftigt sich seit 1956 mit der Malerei. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie in München und hatte ab 1967 Lehrtätigkeiten an der Kunstakademie Karlsruhe und der Kunstakademie München inne. Von 1971 bis 1997 war er Professor für Freie Malerei und Kunsttheorie an der Städelschule in Frankfurt am Main, die er auch als Rektor leitete.