Die Terroranschläge von Paris und andere Anschläge radikaler Islamisten wie in Ankara, Beirut oder Mali halten die Welt in Atem. Was ist für unsere Länder und für jeden von uns eine angemessene und weise Antwort darauf – insbesondere, wenn wir die momentane Situation auch als eine Herausforderung für unsere individuelle und kollektive Entwicklung in einer globalen Welt sehen? Diese Frage beleuchten wir in drei Artikeln mit zum Teil auch recht unterschiedlichen Antworten oder Sichtweisen: Wael Farouq: Der Islamische Staat hat eine klare Ideologie, der Westen lebt in Widersprüchen; Amir Ahmad Nasr: Wie können wir mitfühlend (nicht) töten?; Otto Scharmer – Paris: Das Herz unserer Gemeinschaft verwandeln
Paris: Das Herz unserer Gemeinschaft verwandeln
Otto Scharmer
Die Terroranschläge in Paris sind ein Stich in unser kollektives Herz. Die Wahl des Ortes für die Terroranschläge zielten auf die drei Kernwerte der westlichen Zivilisation: Liberté, Egalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Seit dem Sonntag nach den Anschlägen benutzt Präsident Hollande das Wort „Krieg“, um die Beziehung zwischen seinem Land und den Terroristen des sogenannten Islamischen Staates zu beschreiben und hat die Militärschläge in Syrien verstärkt. Obwohl man die Weisheit dieser Entscheidung und dieses Wortes hinterfragen kann, besteht in Paris nun sicher eine kriegsähnliche Situation. Aber was für ein Krieg ist das – zwischen wem und was?
Wir wissen, dass es nicht nur falsch wäre, diese Auseinandersetzung als religiösen Konflikt gegen den (radikalen) Islam zu bezeichnen (wenn man bedenkt, dass allein im Irak jedes Jahr mehr als 10.000 Menschen – viele von ihnen Muslime – durch Terrorakte des IS getötet werden), für den IS wäre es auch das perfekte Argument für die Rekrutierung weiterer Kämpfer.
Aber wie viel besser (und passender) wäre es, den Konflikt als Krieg gegen den Islamischen Staat zu bezeichnen. Der Versuch, ISIS durch militärische Vergeltungsmaßnahmen und Bomben zu zerstören, ist militärisch schwierig und politisch kurzsichtig, denn auch dies würde einen nie endenden Strom von Freiwilligen aus dem Westen auf die Seite von ISIS locken.
Der Hauptursache entgegentreten
Statt den Teufelskreis der Gewalt anzuheizen, könnten wir uns der Hauptursache des Konfliktes zuwenden. Die Hauptursache sind die katastrophalen Bedingungen, unter denen die Menschen in Syrien und im Irak leiden und die persönlichen Frustrationen und Missstände von jungen Muslimen in der ganzen Welt, die sich – wie die Angreifer in Paris – in immer größeren Zahlen dem IS anschließen. Aber zu dieser Ursache gehört auch die Art des Denkens, die Sichtweise, die von allen Seiten im Umgang mit diesen Problemen genutzt wird.
Seit dem 11. September 2001 haben wir immer öfter viele Formen der Gefährdung erfahren: die Finanzkrise, die Destabilisierung des Klimas und Terroranschläge. Diesen Strom von Gefährdungen können wir nicht länger kontrollieren. Sie werden sich im nächsten Jahrzehnt und darüber hinaus fortsetzen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis uns die nächste Finanzkrise, die nächste Naturkatastrophe oder der nächste Terroranschlag trifft.
Was können wir aber kontrollieren? Wir können unsere Antwort auf diese Gefährdungen kontrollieren. Im Versuch, auf gefährdende Veränderungen und systemische Zusammenbrüche zu reagieren, wenden Staaten, Politiker und Führungspersonen überall in der Welt im öffentlichen Diskurs im Grunde drei Bezugssysteme oder Sichtweisen an:
1. Durchwurschteln: Man macht einfach so weiter wie immer. Mehr Treffen. Mehr Deklarationen. Mehr leere Worte. Beispiele dafür sind ein großer Teil der Klimaverhandlungen – und um nur ein Beispiel zu nennen, die Haltung des britischen Premierministers Cameron in der internationalen Flüchtlingskrise: eloquente Reden, hochtrabende Rhetorik, aber nichts mit Substanz (aus einem Land, das eine Schlüsselrolle im Irakkrieg gespielt hat, der die Grundlagen für den Aufstieg des IS legte). Ähnliches gilt für die Reaktion der USA: seit 2011 hat die USA weniger als 2000 syrische Flüchtlinge aufgenommen – weniger als an einem Morgen nach Deutschland kommen.
2. Auseinander bewegen: Lasst uns eine große Mauer bauen, die „uns“ von „den anderen“ trennt. Lasst uns die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit innerhalb dieser Wände wahren und außerhalb das Gegenteil tun. In vielerlei Ausdrucksformen entspricht das der Haltung von Donald Trump, dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán und der meisten republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA und den rechtspopulistischen Politikern in Europa.
3. Zusammen bewegen: Wir erkennen unseren eigenen Anteil am Problem und deshalb auch unsere Verantwortung, in Ko-Kreation eine Lösung zu finden. Wir reißen die Mauern ein, überwinden die Trennungen und verteilen unsere Solidarität gleich auf alle Menschen, egal wo sie leben. Das ist in gewissem Maße die Haltung von Angela Merkel in Deutschland, Stefan Löfven in Schweden und vieler Bürger und gemeinnütziger Organisationen in Europa und der ganzen Welt, die sich für Lösungen unserer Krisen einsetzen.
Die Wirklichkeit ruft nach der dritten Sichtweise. Die erste Sichtweise leugnet, dass das System zerbrochen ist. Die zweite Sichtweise sagt, „Okay, wenn das System zerbricht, hat das nichts mit uns zu tun.“ „DIE ANDEREN“ sind dass Problem, nicht „wir“, lasst uns also eine Mauer zwischen „uns“ und „die Anderen“ bauen. Nur die dritte Sichtweise deutet auf einen gangbaren Weg in die Zukunft.
Je mehr man sich mit den konkreten Problemen der Flüchtlingssituation, der Destabilisierung des Klimas und der Terroranschläge befasst, desto mehr erkennt man, dass es NICHTS gibt, was ein Land allein tun kann und dass die wirkliche Lösung ein ganzes globales Ökosystem von Verantwortlichen in kooperativer und ko-kreativer Zusammenarbeit umfassen muss.
Es wird keine Lösung für die Klimakrise geben, ohne einen massiven Transfer von Ressourcen und Technologien von den Industriestaaten in die Entwicklungsländer. Und es wird keine Lösung für die Flüchtlingskrise in Europa geben, ohne einen massiven Transfer von Finanzen und Hilfe von der EU in die Türkei, um den zwei Millionen Flüchtlingen zu helfen, die momentan dort leben. Die Ursprünge der Krisen der Flüchtlinge und des Terrorismus liegen in der massiven direkten und strukturellen Gewalt im Nahen Osten – wo sich der Kreis zu den westlichen Ländern und ihrer kontinuierlichen Komplizenschaft bei diesen Fragen schließt (zum Beispiel Öl- und Waffenhandel mit Staaten wie Saudi-Arabien, die durch ihren religiösen industriellen Komplex die fundamentalistischen Lehren des Wahhabismus verbreitet, die ISIS durch Terrorismus umsetzt.).
Wichtig dabei ist mir, klarzustellen, dass die dritte Sichtweise nicht nur moralisch angemessener ist, sondern sie ist auch ein wirtschaftlicher und politischer Imperativ. Und: sich der Hauptursache (statt der Symptome) des Terrorismus zuzuwenden bedeutet, die spirituelle Dimension des Terrorismus anzugehen: die tiefer liegende Denkweise des Fundamentalismus.
Der Zusammenstoß der Kräfte
Diese Abbildung zeigt zwei zusammenstoßende Sichtweisen, die unterschiedliche dynamische und soziale Felder entstehen lassen: Presencing – die Fähigkeit, zusammen die Zukunft zu spüren und zu formen, indem eine soziale Architektur der Verbundenheit zur Anwendung kommt; und das Feld des Absencing – das Feld des „Mauerbaus“, indem eine soziale Architektur der Trennung genutzt wird.
Die wirkliche Auseinandersetzung unserer Zeit ereignet sich nicht zwischen Religionen und auch nicht zwischen ISIS und den westlichen Ländern. Die wahre Auseindersetzung unserer Zeit ereignet sich zwischen den Kräften des „Absencing“ (Ökonomien der Angst und Zerstörung) und den Kräften des „Presencing“ (Ökonomien des Mutes und der Kreation). Es ist eine Auseinadersetzung, die sich über alle Ebenen der Systeme erstreckt.
Die Reaktion der Bush-Regierung auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 basierten fest auf dem Kreislauf von „Absencing“ und Zerstörung. Bombt sie zur Hölle. Die Folgen waren nicht weniger als katastrophal, dazu gehört auch der Aufstieg von ISIS und die heutige Flüchtlingskrise in Europa.
Selbst wenn ein gewisses militärisches Eingreifen angemessen sein mag, über längere Sicht kann ISIS nicht mit den Strategien des „Absencing“ bekämpft und bezwungen werden. Das ist genau die Strategie, die das Ungeheuer erst geschaffen hat. Die einzige Möglichkeit, Ungeheuer zu besiegen, liegt in der Anwendung von Strategien, deren Ursprung im Kreislauf von „Presencing“ und Kreation liegen. Mahatma Gandhi, Martin Luther King Jr., Nelson Mandela und die Bürgerrechtsbewegung, die schließlich den Mauerfall in Berlin auslöste, haben uns gezeigt, wie es möglich ist
Widerstand des Herzens
Es wurde oft gesagt, dass man im Angesicht der zerstörerischsten Kräfte – wie Hitler und Nazideutschland – nicht bei den gewaltlosen Strategien der Transformation von Konflikten, wie sie Gandhi angewendet hat, bleiben kann. Aber genau das haben Hunderte unbewaffneter deutscher Frauen im Februar 1943 auf dem Höhepunkt der Nazi-Herrschaft in Europa eine Woche lang getan. In der Rosenstraße in Berlin standen sie Seite an Seite den Gestapo-Schergen mit Maschinengewehren gegenüber und forderten die Freilassung ihrer verhafteten Männer.
Charlotte Israel war unter ihnen und erinnert sich:
„Ohne Vorwarnung erhoben die Gestapo-Leute ihre Maschinengewehre und zielten auf die Menge und riefen: ‚Aus dem Weg oder wir schießen.‘ Wir wichen zurück. Aber dann, zum ersten Mal, wurden wir richtig laut. Nun war uns alles egal. … Wir dachten, nun würden sie sowieso schießen, da konnten auch wir sie anschreien. Wir schrien: ‚Mörder, Mörder, Mörder, Mörder.‘“ (Nathan Stoltzfus, Resistance of the Heart, Rutgers University Press, 2001)
Der Protest der Frauen aus der Rosenstraße war erfolgreich, sagt der Historiker Nathan Stoltzfus in seinem Buch über die Ereignisse, weil Frauen wie Charlotte Israel so tief motiviert waren, dass sie ihr Leben riskierten. Am Ende siegten der Mut und die Leidenschaft der Frauen; 1.700 Juden, die in der Rosenstraße festgehalten wurden, kamen frei.
Offenherziger Mut kann ISIS und die Denkweise, die ihm zugrunde liegt, transformieren.
Dieser Geist aktiviert den Kreislauf des „Presencing“. Wenn wir uns stattdessen auf Gewalt und das Bombardieren von Städten in Syrien verlassen, werden wir nur den Kreislauf des „Absencing“ verstärken – andere zerstören und dadurch schließlich auch uns zerstören.
Obwohl ISIS unsere Schlagzeilen und dadurch unseren Geist beherrscht, sollten wir nicht die anderen Ereignisse in Europa in den letzten Wochen vergessen, die in hundert Jahren vielleicht historisch bedeutsamer sein werden. Ich meine die Erhebung der Bürger, das Entstehen zahlloser selbstorganisierter Gruppen und Gemeinschaften, die Stärke vieler Lokalpolitiker, die in riesigem Ausmaß den Flüchtlingen helfen.
Diese Welle offenherzigen Mitgefühls, die man bei den Menschen sah, die am Münchner Hauptbahnhof die Flüchtlinge begrüßten, hat einen Geist entzündet, der die kollektive deutsche Antwort auf diese Situation verwandelt hat. Das ist eine außerordentliche Kraft, die trotz all dem Lärm, der vonseiten rechtspopulistischer Kreise und ihrer Sichtweise des „Getrennt bewegen“ kommt, weiterhin sehr stark ist – nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen Gemeinden und Städten in Europa. Das ist das Wunder, das heute unsere Aufmerksamkeit verdient. Und das ist der Geist, der schließlich auch ISIS und die Denkweise des „Absencing“ (also den Fundamentalismus), die ISIS hervorgebracht hat, transformieren wird. Wie Hölderlin sagt:
„Wo Gefahr ist, ist das Rettende auch.“
Was sind also Bedingungen, die bestimmen, ob eine Gemeinschaft das Feld des „Absencing“ oder „Presencing“ aktiviert? Was bestimmt, ob wir kollektiv, eine soziale Architektur der Trennung oder Verbundenheit aufbauen? Ob zum Beispiel die Menschen in München und Berlin ein Ungeheuer wie Hitler zur Macht verhalfen und stützten oder ob an den selben Orten 100 Jahre später mitfühlende Hilfe im Angesicht menschlicher Verwundbarkeit mobilisiert wird? Im Grunde liegt der Unterschied in einer Wandlung des Herzens auf der Ebene des Einzelnen und der Gemeinschaft. Die Anschläge von Paris haben uns kollektiv verwundet und rufen uns deshalb dazu auf, uns zu erheben und den Wandel hervorzubringen, der heute am wichtigsten ist – die Wandlung unseres Herzens.
C. Otto Scharmer, Dr., ist Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Gründer des Presencing Institute in Cambridge, MA. Er lehrt als Gastprofessor an der Helsinki School of Economics und berät globale Unternehmen, internationale Institutionen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) in den USA, Europa, Afrika und Asien. Seine Führungs- und Innovationsprogramme für Organisationen wie Daimler, Fujitsu und PricewaterhouseCoopers wurden international ausgezeichnet.
Veröffentlichung u. a.: „Theorie U – Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik“ (3. Aufl. 2013, Carl-Auer Verlag Heidelberg).
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Eine ausführlichere Erklärung von Presencing und Absencing finden Sie in diesem Video vom U.Lab: Transforming Business, Society, and Self.
Der Artikel ist im englischen Original auf Huffington Post erschienen.
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evolve 08: EINE WELT IM DIALOG – Begegnungen mit uns selbst
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