Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen:
“Die dunkle Nacht der Seele” von Hans Peter Duerr
Benedikt Maria Trappen
Mit seinem neuen, umfangreichen Buch, in dem er an seine frühen Bücher „Traumzeit“ (1978) und „Der Wissenschaftler und das Irrationale“ (1981) anknüpft, hat der Ethnologe, Philosoph und Bewusstseinsforscher Hans Peter Duerr eine umfassende Bestandsaufnahme sogenannter Jenseitsreisen, außerkörperlicher Erfahrungen und Nahtoderlebnisse vorgelegt, die es keinem erstzunehmenden Wissenschaftler mehr erlaubt, an der Faktizität der geschilderten Erlebnisse zu zweifeln. Das Buch kann daher jetzt schon als Standardwerk künftiger Forschung bezeichnet werden. Duerr hat darin etwa 3540 Bücher und Aufsätze ausgewertet, eine Fleißarbeit ohne gleichen. Qualifiziert für die Aufarbeitung des Themas ist er zudem durch eigene außerkörperliche Erfahrungen, Nahtoderlebnisse und Drogenerfahrungen, die ihm bei der Differenzierung der in Frage stehenden Phänomene gute Dienste leisten. Die Bestandsaufnahme bezieht sich ebenso auf zahlreiche der im Laufe der Geschichte vorgebrachten Ansätze des Verstehens und Erklärens, die Duerr allerdings nicht systematisch aufarbeitet, sondern bei passender Gelegenheit mit kurzen, oft klaren und treffenden Bemerkungen charakterisiert und in ihre Grenzen verweist. Dass dabei sprachkritischen Überlegungen eine bedeutsame Rolle zukommt, war zu erwarten. Dass „seinen Körper nicht zu fühlen“ etwas anderes ist als „keinen Körper zu haben“ gehört etwa zu diesen einfachen, oft einleuchtenden Argumentationen. Auch, dass die „Seele“ ein „Vermögen“ sei, eine „Fähigkeit“ zum Denken, Wollen, Erleben und kein „Ding“ leuchtet ein und kann manche, auch pathologische Schilderung erhellen. Dass eine „Fähigkeit“, ein „Vermögen zu“ – etwa die Fähigkeit eines Schlüssels, ein Schloss aufzuschließen – nicht „wegfliegen“ kann, muss dagegen nicht jeden überzeugen. Ebenso wenig wie die – allerdings auch nur kurz erwähnte – „alternative“ Auffassung der faszinierenden Erlebnisse als „nicht gewöhnliche Halluzinationen“. Letztlich anerkennt auch Duerr Beispiele, in denen es offenbar zu „Überschneidungen“ alltäglicher und nicht-alltäglicher Weisen der Weltwahrnehmung kommt und die nicht immer durch – als solche immer noch aufklärungsbedürftige – „Telepathie“ erklärt werden können.
Wittgensteins Sprachphilosophie wurde Duerr bereits früh zum „Ausweg aus dem Fliegenglas“ und half ihm, seinen „gesunden Menschenverstand“ zu bewahren, auf dessen Bedeutung er übrigens auch in seinem neuen Buch immer wieder zu Recht hinweist. Überraschend und erstaunlich ist allerdings, dass der zweite große Denker, den Duerr früh gelesen und bewundert hat, im Literaturverzeichnis gänzlich fehlt: Friedrich Nietzsche. Heißt das, dass Duerr die Auseinandersetzung mit dem „Irrationalen“ inzwischen ausschließlich von der sprachphilosophisch scheinbar gesicherten Insel abendländischer Rationalität aus führt?
Berücksichtigt werden von ihm zahlreiche wichtige medizinische, physiologische, psychiatrische, ethnologische und philosophische Erkenntnisse und Argumentationen, ein solides Handwerkszeug, um wild wuchernde Phantasien und Irrtümer zu beschneiden. Glaubt er damit aber etwa die traumähnliche Welterfahrung des tantrischen Buddhismus in Frage stellen zu können, greift er deutlich zu kurz. Ontologische Grundfragen lassen sich auf diese Weise nicht „abschneiden“.
Auch blendet Duerr aus, was man spätestens wieder seit Heidegger über das Wesen metaphysischer Fragen und Antworten weiß: Sie sagen weniger etwas über „Gott“ und „Jenseits“ aus, als über das Entwicklungspotenzial des menschlichen Erlebens, was Descartes übrigens bereits wusste, der sehr zu Unrecht immer wieder als leibfeindlicher Rationalist verkannt und missverstanden wurde. Auch Platon wusste über den eigentlichen Sinn der Philosophie offenbar mehr, wenn er mitteilte, die „Seele“ sei „im Körper gefangen“ und könne mittels „Erinnerung“ aus ihrem „Gefängnis“ befreitwerden, was Weg und Aufgabe des Philosophen sei. Heidegger wird die „Erlebnisfähigkeit“ des Menschen später „In-der-Welt-Sein“ nennen und dieses in Anlehnung an Graf York von Wartenburg und Wilhelm Dilthey an die Geschichtlichkeit und Endlichkeit des Daseins knüpfen. Sich auf sich selbst besinnend, sich erinnernd befreit der Philosophierende seine Erlebnisfähigkeit, der die Alltagswelt „anders“ – intensiver, klarer, offener, tiefer – erscheint. Philosophieren galt Platon in diesem Sinne als „einüben in das Sterben“. Die „erlöste“ Seinsweise kann mit Sinn und Verstand daher „außerkörperlich“ genannt werden. Platon zählt, was Duerr keineswegs verschweigt, zudem zu den ersten, die eine „Jenseitsreise“ eines scheinbar im Kampf getöteten Soldaten beschreiben. Wie im ZEN scheint er allerdings weniger an den Schilderungen des im „Jenseits“ Erlebten interessiert, als an den Möglichkeiten der Entwicklung von Seele und Geist, die sich darin zeigen und – den Nachwirkungen solchen Erlebens.
Auch dieser Aspekt wird bei Duerr leider nur am Rande erwähnt. Was bewirken ekstatische Erlebnisse, „Seelenreisen“? Was bedeuten sie für den „Zurückkehrer“ auf den erst, wie Duerr in „Traumzeit“ bereits schrieb, die „Erkenntnis“ wartet? Immer wieder liest man, wie schwer den „Zurückgekehrten“ das „Leben im Körper“ fällt, wie sehr sie sich in die „paradiesischen Gefilde“ zurück sehnen. Dabei ging es in ekstatischen Kulten vor allem um Erneuerung und Heilung. Auch die Frage nach der Bedeutung des im „Jenseits“ der Alltagswelt Erlebten kommt leider zu kurz. Haben die Erlebnisse und Handlungen dort Auswirkungen auf das Erleben der Alltagswelt? Bekannt ist, dass luzide Träumer ihre Aufenthalte in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit durchaus auch therapeutisch nutzen und verstehen, wie schon die Psychoanalyse von der heilsamen Wirkung der Traumdeutung überzeugt ist. Die Frage nach dem „ontologischen“ Status der Erlebnisweisen tritt dahinter erst einmal zurück. „Nenn es einen Traum“, schrieb Wittgenstein, „es ändert nichts“.
Dass Duerr auch zeitgenössische Philosophen und Bewusstseinsforscher berücksichtigt, Thomas Metzinger etwa und Jochen Kirchhoff, deutet darauf hin, dass er, nachdem er die Philosophie seinen groß angelegten kulturphilosophischen Projekten wegen seit langem nicht mehr weiter verfolgt hatte, inzwischen wieder den Anschluss gesucht und gefunden hat. So umfassend indes seine Bestandsaufnahme der Phänomene ist, so kurz greifen immer wieder die wenigen Bemerkungen, in denen er – aus seiner Sicht „metaphysische“ und „esoterische“ – Denkweisen glaubt abhandeln zu können. Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens die freimütig mitgeteilte Erinnerung Duerrs an seinen ersten LSD Trip, während dem er glaubte, eine „bahnbrechende Erkenntnis“ zu haben, die er zur Sicherheit auf eine Tapete kritzelte. Die in dem veränderten Bewusstseinszustand offenbar höchst bedeutsame und wertvolle Einsicht, schien ihm bei „normalem“ Bewusstsein allerdings banal: „Alles hat eine Bedeutung.“ – Dieser Satz ist keineswegs banal und zeugt von tiefer Erleuchtung. Dass diese nicht „von selbst“ kam und ihre erleuchtende und überzeugende Kraft deshalb flüchtig war, zieht Duerr offenbar auch heute nicht in Erwägung. Welche Erkenntnisse und Erfahrungen, kann man fragen, hätten auf Duerr gewartet, wenn er an dieser kurz aufleuchtenden, höchst bedeutsamen Erkenntnis festgehalten und sich bemüht hätte, diese „Reise“ ohne äußere Hilfsmittel zu wiederholen? „Alles hat eine Bedeutung“ besagt, dass der eigentliche, tiefere Sinn allen Tuns, Sagens und Geschehens unbewusst ist, der Mensch, der sich auf sich selbst zurückwendet, Bedeutung im Gewesenen erkennen und verstehen kann, dass alles “mehr“ ist, über sich hinaus weist. Dass das Leben des im gewöhnlichen Alltag nur scheinbar Wachen ein Traum ist und das Leben des zu dieser Erkenntnis Erwachenden traumhaft wird. Auf diesem Weg der zunehmenden Offenheit, Wachheit, Klarheit, Freiheit, Tiefe, Weite bleiben die philosophischen Fragen nach und nach zurück. Derjenige, der sein Potenzial endlich entfaltet hat, ruht im Schweigen angesichts des unbegreiflichen Geheimnisses. Auf philosophische Fragen gibt es keine Antworten, die eindeutig und endgültig ausgesprochen werden können. Sie sind der Motor der Entwicklung. Und die entwickelte Erlebnisfähigkeit ist – neben immer nur vorläufigen Einsichten und Erkenntnissen – die Antwort, das Verschwinden der Fragen.
In diesem Sinne verzichtet der ZEN Buddhist – wie Duerr – auf „Unsterblichkeit“. „Ewigkeit“ ist nicht endlose Dauer, nicht Quantität, sondern Qualität des Erlebens. Der Weg aber dieser immer erneuten Wandlung, Entwicklung, Erweiterung des Horizontes ist unendlich.
„Wege, nicht Werke“ hat Heidegger diese Einsicht benannt, der Duerr vor Jahrzehnten in einem Gespräch bescheinigt hatte, das „Zeug“ zum Philosophen zu haben. Duerr allerdings war damals bereits davon überzeugt, dass Wittgenstein die Probleme der Philosophie bereits endgültig gelöst habe. Eine, auch im Nachhinein, vielleicht doch allzu voreilige Überzeugung.
Benedikt Maria Trappen studierte Philosophie, Germanistik und Grundschulpädagogik an den Universitäten Saarbrücken und Landau. Er war Schüler von Frank Werner Veauthier, Gerhard Knauss und Manfred Gies. 1987 begegnete er dem Werk des Dichterphilosophen José Sánchez de Murillo. Für den von Sánchez de Murillo herausgegebenen „Aufgang. Jahrbuch für Denken – Dichten – Musik“ war Trappen von 2012 bis 2014 als Autor und wissenschaftlicher Beirat tätig.
Texte von Benedikt Maria Trappen
Und die Webseite des Herausgebers, die Lama und Li Gotami Govinda Stiftung