Gott in Europa
Die neue Suche nach Transzendenz
Nadja Rosmann
(Erschienen in evolve 10: Europa such seine Seele – Warum Spiritualität heute wichtig ist.)
Wir können an Gott glauben – oder nicht. Zwischen beidem wählen zu können, ist eine der großen Errungenschaften menschlicher Evolution und prägt das heutige Bild Europas wesentlich. Wenn wir in uns gehen, können wir erfahren, dass das Heilige und das Säkulare keine unversöhnlichen Gegensätze sind. Wir können spüren, dass der tiefere Funken unseres Menschseins hier ebenso zuhause ist wie diese spirituelle und weltliche Vielfalt. Ein Ort, an dem wir ganz wir selbst sind und aus dieser Ganzheit anderen wirklich begegnen können.
Wenn ich an die Familie meines Vaters denke, wird mir heute erahnbar, wie sehr für diese Generation, der das Psychologische noch fremd war, der Bezug zu Gott der einzige Weg gewesen sein muss, ihr Schicksal zu ertragen. In einer Zeit, in der Europa aus Trümmern neu erwuchs, war für viele Europäer ihr Glaube eine Zuflucht vor dem Unaussprechlichen, das ihnen im Krieg widerfahren war. Als kriegsvertriebene Donauschwaben hatten meine Großeltern ihren Bauernhof in einem kleinen Dorf im heutigen Serbien verlassen müssen, hatten alles, was ihre äußere Lebenswelt ausmachte, unwiederbringlich verloren. Auf mich als Kind wirkten sie in ihrer inneren Zurückgezogenheit und ihrem Schweigen oft ein wenig wie aus der Welt gefallen. Wenn meine Großmutter sich nach getaner Arbeit mit ihrem Rosenkranz auf dem knarzenden Sofa in der Küche niederließ, schien das Gebet der einzige Ort, an dem sie noch Geborgenheit fand in einer Welt, von der sie ausgespuckt worden war. Der Krieg hatte ihr ihren ältesten Sohn und ihre Heimat genommen. Ihr Glaube war das Einzige, was ihr blieb. Etwas, das ihre traumatischen Erlebnisse würdevoll in etwas Größeres einbettete.
Die Befreiung des Glaubens
Die Frömmigkeit meiner Großmutter wirkte auf mich als Kind immer ein wenig antiquiert, denn meine Lebenswelt war eine deutlich andere. «Die Entwicklung des geistigen Lebens in Europa scheint vom Ausgang des Mittelalters an zwei große Tendenzen gehabt zu haben: die Befreiung des Denkens und Glaubens von jeglicher autoritativer Beeinflussung, also den Kampf des sich souverän und mündig fühlenden Verstandes gegen die Herrschaft der Römischen Kirche und – andererseits – das heimliche, aber leidenschaftliche Suchen nach einer Legitimierung dieser seiner Freiheit, nach einer neuen, aus ihm selbst kommenden, ihm adäquaten Autorität», hatte Hermann Hesse schon 1943 im Glasperlenspiel geschrieben. Diese Bewegung war auch in meiner Familie spürbar. Meine Mutter war nicht getauft, da ihre Eltern – evangelisch und katholisch – sich nicht auf eine Religionszugehörigkeit für ihre Tochter hatten einigen können. So kam es, dass meine Mutter als junge Frau Sartre und Camus las und das Menschsein in Abwesenheit des Göttlichen erkundete. Ein aufgeklärter Humanismus, in dem Mitgefühl und Selbstverantwortung eine tragende Rolle spielten, wurde zu ihrem wesentlichen Weltbezug und zum Raum, in dem auch ich ungetauft heranwuchs.
In meiner Grundschulklasse war ich noch das einzige Kind, das nicht zum Religionsunterricht ging. In der fünften Klasse im Gymnasium bekam ich Gesellschaft von Yussuf, einem Türken, und Nadia, die aus Marokko kam. Die Grenzen Europas wurden durchlässiger und mit ihnen weiteten sich auch die Grenzen der Nachkriegsidentitäten. Die langsam zunehmende Anwesenheit von Muslimen war zu dieser Zeit kaum ein Thema. Nicht wenige Christen beschäftigte eher die Frage, wie sie ihre Religion unter den neuen Vorzeichen eines erstarkenden Ichs angemessen leben könnten. Eine Studie, die ich für die Identity Foundation realisiert habe, zeigt, wie diese Individualisierung des Religiösen das Verhältnis zu Gott im Vergleich zum Leben meiner Großmutter bis heute verändert hat. In der älteren Generation empfindet sich inzwischen nur noch die Hälfte der Deutschen als religiös, unter Jugendlichen sogar nur jeder Fünfte. Von den Älteren, die noch einer Kirche angehören, hat jeder Dritte Glaubensüberzeugungen entwickelt, die sich von der Lehrmeinung seiner Kirche unterscheiden.
Hierzulande steht wohl kaum ein anderer so sehr für diesen Wandlungsprozess wie Willigis Jäger. Der Benediktiner und Zen-Meister versöhnte viele, die mit dem System Kirche haderten, mit ihrem christlichen Erbe. Er brachte ihnen mit der Kontemplation die mystische Dimension ihres Glaubens wieder nahe und bot mit der Zen-Meditation einen Pfad zur Transzendenz an, der sogar ohne Gottesbezug auskommt. «Gott ist für mich wie eine Symphonie, die als dieses evolutionäre Geschehen erklingt. Er sitzt nicht draußen. Er hat diese Symphonie nicht komponiert und spielt sie sich vor. Er erklingt als diese Symphonie. Er ist die Musik. Und ich bin der Klang einer ganz individuellen Note: einmalig, einzigartig, unverwechselbar. Gott klingt als diese Note, die ich bin», so Willigis Jäger.
Für viele Menschen, die sich heute als religiös oder spirituell betrachten, ist das, was sie trägt, vor allem ihre lebendige, individuell gestaltete Beziehung zum Transzendenten. Und vielleicht erleben viele gerade deshalb die wachsende Präsenz des Islams in Europa als befremdend oder gar bedrohlich, tritt er doch vor allem im Geopolitischen zur Zeit hauptsächlich als fundamentalistischer Dogmatismus in Erscheinung. Dabei übersehen wir gerne, dass sich auch in islamischen Kulturen längst Emanzipationsprozesse entfalten, die Ähnlichkeiten mit dem religiösen Wandel im Westen aufweisen. Auch Muslime fragen sich heute, welche Gestalt für sie ein zeitgemäßer Glaube haben kann. Was wäre, wenn wir erkennen, dass in ihnen die gleiche Herzenssehnsucht nach größerer Verbundenheit lebendig ist wie in uns selbst und dass in diesem geteilten Bezug zum uns Übersteigenden Begegnung möglich ist? In Europa hat sich innerhalb von nur zwei Generationen ein fundamentaler Wandel religiöser Identität vollzogen. Und diese Bewegung muss noch lange nicht zu Ende sein.
Spirit durch die Hintertür
Doch was ist mit jenen Europäern, die das evolutionäre Geschehen in einen Individualismus fassen, der als rein menschliche Symphonie erklingt? Die, wie Jürgen Habermas es ausdrückt, religiös gänzlich unmusikalisch sind? In Deutschland sind es bereits rund 40 Prozent der Bevölkerung, die um Spirituelles gleich welcher Couleur einen großen Bogen machen oder sich explizit als Atheisten betrachten, weil sie allein im Ich die maßgebliche Instanz sehen. Paradoxerweise werden auch sie bisweilen von der spirituellen Dimension berührt. Es ist der spirituellen Selbstermächtigung der Postmoderne zu verdanken, dass das Transzendente heute auch unter den Vorzeichen eines wissenschaftlichen Pragmatismus quasi durch die Hintertür zu einer kulturschaffenden Kraft wird. Mit der Transpersonalen Psychologie wurde Meditation zum Therapeutikum. Und die von dem Mediziner Jon Kabat-Zinn entwickelte Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) ist längst im Gesundheitswesen etabliert. «Die spirituelle Dynamik führt zu mehr Integration und Transformation. Dies wird häufig als ein Befreiungsprozess erlebt zu dem hin, was der Mensch eigentlich ist: zu einer erlösten Grund-Identität», erklärt der Theologe, Zen-Meister und Gestalttherapeut Johannes Fischer. Menschen, die nach Heilung suchen, fühlen sich in der Achtsamkeitsübung dann wieder ganz wie sie selbst. Dass diese Erfahrung von Ganzheit auch ein «spirituelles» Phänomen ist, ist ihnen nur oft nicht bewusst.
Mir selbst war alles Spirituelle dank meiner Erziehung lange Zeit mehr als suspekt. Es war mein «Glaube» an das Menschsein, der mich das, was unser In-der-Welt-Sein ausmacht, immer tiefer ergründen ließ – und mich zur Meditation führte. Über die Zeit konnte ich immer mehr spüren, dass die Hingabe an etwas Größeres (vor einigen Jahren wäre mir dieser Satz noch nicht über die Lippen gekommen …) meinem Ich nichts nimmt, sondern es im Gegenteil heiler und authentischer werden lässt. Heute betrachte ich diese innere Reifung als spirituellen Prozess, der mich mit anderen Menschen in der Tiefe verbindet. Was uns eint, ist die aufrichtige Frage, was im gemeinsamen Erkennen der Grenzenlosigkeit unseres Menschseins möglich werden kann. Eine Frage, die ich mir nur als Individuum überhaupt stellen kann. Ob jemand Christ ist oder Muslim oder ob Gott ihm fremd ist, tritt in den Hintergrund, wenn diese Frage zu einem lebendigen Anliegen wird – und sie wird es, wenn wir unser Menschsein wirklich ernst nehmen. Gerade deshalb stimmt mich der neue Achtsamkeits-Hype sehr zuversichtlich, könnte er in einer Zeit, in der im Westen ein funktionalistischer Pragmatismus die Kultur prägt, den Respekt für die Innerlichkeit des Menschseins neu erwecken.
Gegenwärtig sind es in Europa überzeugte Säkularisten, die das Transzendente im weltlichen Gewand in die Mitte der Gesellschaft tragen. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer hat mit ihrem ReSource-Projekt ein säkulares Trainingsprogramm entwickelt, das Methoden der östlichen Weisheitstraditionen weltanschaulich neutral zu Tools der persönlichen Entwicklung macht. Im Vereinigten Königreich, das gerade damit ringt, wie zugehörig es sich noch zu Europa fühlt, bereitet die «Mindfulness All-Party Parliamentary Group» eine Zeitenwende vor. Rund 200 britische Abgeordnete und Parlamentsmitarbeiter haben dort bereits Achtsamkeitskurse absolviert. Im vergangenen Herbst legte die Gruppe das Programm «Mindful Nation UK» vor, das empfiehlt, Meditation auf breiter Basis in Schulen, dem Gesundheitswesen, öffentlichen Institutionen und dem Justizsystem zu etablieren.
Bewegungen wie diese haben nicht zum Ziel, das Heilige im gesellschaftlichen Leben zu revitalisieren. Tania Singer möchte mit ihrem Programm die innere Erfahrungskompetenz für eine «Ökonomie der Fürsorge» legen. Die Briten greifen in Anbetracht maroder Gesundheits- und Sozialsysteme zum Strohhalm Achtsamkeit. Doch die innere Öffnung, die sich durch Achtsamkeitsübungen einstellt, wirkt wahrscheinlich über ihren vordergründigen Zweck hinaus. Dann ist eher die Frage, ob wir mit diesem Potenzial bewusst etwas anfangen möchten.
Neues Menschsein
Der Politikwissenschaftler Marc Helbling brachte kürzlich eine interessante Perspektive in die Diskussion darüber, welche Herausforderungen für Europa mit der verstärkten Zuwanderung von Muslimen verbunden sind. Er geht davon aus, dass in Regionen wie beispielsweise Bayern, in denen der Alltag noch von religiöser Lebendigkeit geprägt ist, genügend Anknüpfungspunkte für einen fruchtbaren interreligiösen Diskurs bestehen, denn: «Wer gläubig ist, bringt auf der individuellen Ebene ein grundsätzliches Verständnis für ein religiöses Leben mit.» Ich würde sogar noch weiter gehen. Was wäre, wenn all die Menschen, die heute Meditationskurse besuchen, weil sie nach Entspannung und innerer Freiheit streben, bewusster verstehen, dass die Weitung des Geistes, die sie dabei erfahren, viel gemein hat mit dem, was Gläubigen ihre religiöse Erfahrung ist? Welche Dialoge über eine gemeinsame Zukunft, unsere Werte und unser Zusammenleben, könnten von hier aus möglich werden?
Kürzlich traf ich Bekannte wieder, die mit meinen spirituellen Aktivitäten nie sonderlich viel anfangen konnten. Voller Enthusiasmus erzählten sie, dass sie nun – aus gesundheitlichen Gründen – Yoga üben und dabei auch meditieren. Sie wirkten präsenter, dem Leben zugewandter als früher. «Wir meditieren in der Schule auch», warf ihr Sohn mit wichtiger Miene ein. Wenn die Achtsamkeitsübungen einmal ausfielen, weil die Lehrerin krank war, vermisste er etwas, denn er spürte unbewusst, dass die gemeinsame Stille im Zusammensein in der Klasse einen Unterschied machte. Zarte Entwicklungen wie diese sind es, die unsere persönliche Entwicklung zu etwas Größerem werden lassen können, weil wir spüren, dass da «etwas» ist.
Meine Großmutter hätte das so nicht verstanden, weil sie dieses «Etwas» allein in Gott erkannte, und selbst meiner Mutter war das, was mich heute bewegt, sehr fremd, weil sie einen Individualismus lebte, dem diese Dimension noch nicht zugänglich war. Ich trage ihrer beider Erbe im Herzen und spüre, wie es meine Suche nährt, immer tiefer in die umfassendere Verbundenheit hineinzuleben, aus der das Wunder des Menschseins erwächst, und die sich auf so vielen Wegen öffnet. Vielleicht ist schon für die kommende Generation die Frage nicht mehr so drängend, ob Gott tot ist oder lebt, welcher Gott der «richtige» ist oder ob wir überhaupt einen Gott brauchen, weil sie mit diesem größeren «Etwas» in Resonanz geht – weil es etwas in ihr berührt.
Im Blick zurück beginnen wir gerade erst zu erkennen, dass all die spirituellen Ausdrucksformen, die über die Jahrtausende entstanden sind, genau wie unser Selbstverständnis als moderne Individuen aus der gleichen Quelle erwachsen. Und jede noch so subtile Erfahrung diese Quelle in uns lebendig werden lässt. Das ist der Boden, auf dem ein neues Miteinander zwischen den Religionen, zwischen Gläubigen und Atheisten, zwischen Europäern und Migranten, gedeihen kann. Als aufgeklärte Geister wissen wir, dass all diese Facetten das Erbe unseres eigenen Menschseins sind. Wir können uns dafür entscheiden, mit diesem Erbe bewusst zu leben und es sich weiter entfalten zu lassen.
(Erschienen in evolve 10: Europa such seine Seele – Warum Spiritualität heute wichtig ist.)
Dr. Nadja Rosmann ist Kulturanthropologin mit dem Schwerpunkt Identitätsforschung. Sie arbeitet als Journalistin, Kommunikationsberaterin und wissenschaftliche Projektmanagerin vor allem zu Themen aus den Bereichen Wirtschaft und Spiritualität und betreibt das Weblog think.work.different: www.zenpop.de/blog Aktuelles Buch: «Mit Achtsamkeit in Führung – Was Meditation für Unternehmen bringt».