Warum wir mehr und nicht weniger Globalisierung brauchen
John Bunzl
Das von der Britischen Unabhängigkeitspartei, der Französischen Front National und anderen populistischen Parteien versprochene „Erdbeben“ ist als Folge der europäischen Wahlen tatsächlich eingetreten. Die wahre Geschichte hinter dem Aufstieg dieser Parteien ist jedoch weder eine anmaßende Europäische Union noch eine ungezügelte Immigrationspolitik. Vielmehr zeigten sich die Regierungen unfähig, gemeinsam die globalen Kräfte zu kontrollieren, welche die Sparpolitik, Immigration und Arbeitslosigkeit hervorbringen.
Im Angesicht unkontrollierbarer, global agierender Finanzmärkte haben die Regierungen keine andere Wahl, als eine harte Sparpolitik durchzusetzen. Die Möglichkeit für multinationale Konzerne, sich durch uneinheitliche nationale Gesetze vor steuerlichen Abgaben zu drücken, zwingt viele Regierungen dazu, die fehlenden Steuereinnahmen über eine Mehrbelastung der Mittelklasse zu generieren.
Welchen Handlungsspielraum haben die Regierungen, wenn viele der niedrig bezahlten Jobs von den Firmen überall dorthin ins Ausland verlegt werden, wo die Gehälter geringer sind? Welchen Handlungsspielraum haben die Regierungen in Zeiten von unkontrolliertem Outsourcing vieler großer Firmen? Wie es scheint, nur sehr begrenzten. Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass unabhängig davon, welche Partei wir wählen, nur wenig Veränderung stattfindet. Der Wahlgang ist bedeutungslos geworden. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Teile der Bevölkerung jedes Landes nach einer einfachen, nationalen Lösung sehnen. Doch die eigentlichen Kräfte, welche hinter den aktuellen Problemen stehen, sind nicht national, ja noch nicht einmal europäisch. Aber das interessiert den Durchschnittswähler wenig, da er die zugrundeliegenden Prozesse nicht erkennt.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Globalisierung der tiefere Grund ihrer Frustration ist, schieben sie die Schuld auf etwas – irgendetwas, das näher ist. In den 1930ern waren es die Juden; 2014 ist es die EU: ironischer Weise genau jene Institution, deren Ziel es war, die Kräfte, welche die Machtergreifung der Nazis damals ermöglichten, für immer zu bändigen.
Die heutigen Grundängste sind Wirtschaftsmigration und Arbeitslosigkeit. Für den Wähler sind beides ernstzunehmende Probleme. Ein Großteil der Wirtschaftsmigration hat ihren Ursprung in Osteuropa, jedoch ist das, was in Europa passiert nur ein Ausschnitt dessen, was sich weltweit ereignet.
Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen aus verarmten Entwicklungsländern, unfähig dort ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, versuchen, nach Europa oder andere Regionen der Welt zu emigrieren. Ebenso wie in der EU, suchen auch die Bürger aus Osteuropa ein besseres Leben in Westeuropa. Insgesamt gesehen trägt also nicht Europa die Schuld, sondern die Globalisierung. Unabhängig davon, ob die Länder in der EU bleiben oder nicht, das Problem der Wirtschaftsmigration wird auch weiterhin bestehen.
Beim Thema Arbeitslosigkeit sieht die Realität so aus, dass die hohen Arbeitskosten in der EU die Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Welt zunehmend erschweren. Die EU ist hier nicht in der Lage, dem Druck globaler Märkte zu wiederstehen. Ob Länder die EU verlassen oder nicht, das Resultat ist für sie dasselbe. Wie die Eurokrise gezeigt hat, war selbst die EU als geschlossene Gemeinschaft unfähig, dem Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte zu widerstehen und implementierte als Reaktion eine verbindliche Finanz,- Steuer- und Sparpolitik, die schon fast undemokratisch wirkte. Jedoch sind die Länder, welche die EU verlassen wollen, keineswegs besser dran. Ob groß oder klein, jede Nation ist der Willkür der globalen Märkte ausgeliefert. Bedroht durch globale Investoren und Unternehmen, welche mit Leichtigkeit ihren Standort, ihre Produktion und tausende von Arbeitsplätzen über nationale Grenzen hinweg bewegen können, hat kein Wirtschaftsstandort, der sich nicht länger „international Wettbewerbsfähig“ hält, mehr eine Chance. Regierungen können unter diesen Bedingungen nicht mehr aktiv lenken und gestalten, und das ist, es, was wir verstehen müssen!
Im Falle Frankreichs kam Francois Hollande mit dem Ziel an die Macht, eine linksgerichtete Agenda als Reaktion auf die wachsende Ungerechtigkeit und die hohe Arbeitslosigkeit durchzusetzen. Jedoch zwangen ihn globalisierte Märkte zum Umlenken. Wie The Times (15. 01. 2014) berichtete, „Nach 18 Monaten der Stagnation unter sozialdemokratischer Führung erklärte [Hollande[, dass er auf die marktfreundliche Politik umschwenken würde, die die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland, Großbritannien und anderswo in den letzten 15 Jahren verfolgt haben.“ Wenn die Regierungen nicht in der Lage sind, etwas für die Armen und Benachteiligten zu tun, dann freuen sich die Marine Le Pens dieser Welt. Die von Hollande verlangten Reformen der EU, um den Nationalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, schießen am Ziel vorbei. Hollande hat nicht verstanden, dass das Problem nicht die EU ist, sondern die Globalisierung.
In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Regierungen den globalisierten Märkten nichts entgegenzusetzen haben, hat der Wahlgang nur noch wenig Bedeutung. Die Parteien haben keine andere Möglichkeit, als Gesetze im Einklang mit den Markt- und Unternehmensansprüchen zu erlassen und werden so immer mehr zu einem gegenseitigen Klon. Hier liegt auch der Grund für die wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen linken und rechten Parteien. Über Tony Blair wurde oft gesagt, dass er der beste konservative Politiker seit Margaret Thatcher war. Oder, wie es der ehemalige konservative Premierminister John Major ausdrückte (The Week, 29.10.1999): „Ich ging schwimmen und ließ meine Kleider am Ufer zurück und als ich wiederkam, hatte Tony Blair meine Kleider angezogen.“
Die Wähler haben zu Recht ihren Glauben in die Politik verloren. Entweder gehen sie gar nicht erst wählen oder sie suchen Trost in oberflächlichen populistischen „Lösungen“. Sicherlich, es kann sein, dass es mit Zuwachs an Einfluss der populistischen Parteien unter Umständen zu einer Verringerung der Einwanderungsstatistik kommen könnte. Aber der Preis dafür ist zu hoch: Die globalen Märkte würden jede Nation bestrafen, welche versucht, Wirtschaftsmigration und Kapitalmobilität ihre Grenzen aufzuzeigen. Die Zahl der Arbeitslosen wäre höher, als sie es ohnehin schon ist. Diesbezüglich haben die populistischen Parteien, genau wie alle anderen auch, den Kräften der Globalisierung nichts entgegenzusetzen.
Die Politiker haben noch nicht verstanden, dass die Zeit der unabhängigen Nationalstaaten vorbei ist. Sie haben noch nicht verstanden, dass wir in einer Zeit leben, in der nur noch globale Kooperation funktionieren kann. Die Rechtspopulisten zu bekämpfen heißt, gemeinsam die globalen Märkte, die übermächtigen Unternehmen, die nationale und transnationale Wohlstandsverteilung neu zu ordnen, um Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu beseitigen.
Die nationale Souveränität muss sich auf bescheidenere Ansprüche beschränken und sich für eine größere und globalere Solidarität zur Bewältigung der neuen Probleme öffnen. Es ist falsch anzunehmen, die Globalisierung wäre zu weit gegangen, sie ist vielmehr noch nicht ausgereift und damit noch nicht tragfähig. Bis jetzt ist es lediglich eine ökonomische Globalisierung, aber noch keine politische. Wir brauchen keine Weltregierung, aber die auftretenden Probleme können nur gelöst werden, wenn die verschiedenen Nationen zusammen die unzähligen globalen Märkte, Unternehmen, Banken, die Reichen und die Steuerbetrüger überwachen, lenken, regieren. Würden Regierungen dies tun, hätten sie genug Geld, um fast jedes Problem zu lösen, in- oder ausländischer Natur.
Wenn die Regierungen die Reichen, die Banken und die multinationalen Konzerne richtig besteuern würden, könnte jede Regierung ihren Bürgern einen richtigen Job, angemessene öffentliche Dienstleistungen und eine gesunde Umwelt zusichern. Die heutigen Mainstream-Politiker müssen verstehen, dass die einzige Möglichkeit, sich gegen Rechtspopulismus zur Wehr zu setzen, in einer Vervollständigung der Globalisierung durch entschiedene globale Zusammenarbeit besteht.
Wenn sie das tun, werden die Hauptprobleme unserer Zeit gelöst. Außerdem werden Wahlen wieder an Bedeutung gewinnen und der Rechtspopulismus wird, wieder einmal, in seine rechtmäßigen Schranken gewiesen. Sollte dies aber misslingen, könnten wir uns der Frage gegenüber sehen, die unsere Kinder uns oft stellen: „Mama, Papa, wie kamen die Nazis an die Macht?“
John Bunzl ist Unternehmer und Begründer von Simpol.