Es ist Zeit, Mensch zu werden
Gender-Befreiung und das Entstehen einer neuen Kultur
Elizabeth Debold
Liegt der Ausweg aus unseren momentanen gesellschaftlichen und globalen Problemen darin, dass nach der Ära des Patriarchats nun die Frauen die Macht übernehmen? Gender-Expertin Elizabeth Debold wagt einen tieferen Blick in die Dynamik unseres kulturellen Wandels, der Frauen und Männer gleichermaßen transformieren und auf neuer Ebene zusammenbringen kann.
Die Vereinten Nationen erklärten die Jahre 1976 bis 1986 zu einer Frauen-Dekade, wodurch ein internationaler Konsens über die Wichtigkeit der politischen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frauen entstand. Afrikas Frauen-Dekade begann 2010. In den Vereinigten Staaten haben Analysten die Jahre 1992, 2012 und 2013 als Jahre der Frau bezeichnet. In den letzten vierzig Jahren seit den Studenten-Revolten der 1968er Generation haben Medienexperten, Aktivisten und Kulturwissenschaftler wiederholt darauf hingewiesen, dass Frauen die männliche Vorherrschaft gestürzt haben. Neuere Bücher, sogar von Männern geschriebene, wie “The Athena Doctrine” von John Gerzema, erklären, dass die Denkweise oder der Führungsstil von Frauen zu größerem Erfolg in einer Welt führen wird, die von gegenseitiger Abhängigkeit und Netzwerken gekennzeichnet ist.
Jetzt sind also die Frauen dran. Endlich. Nach vielen, vielen Tausenden von Jahren männlicher Dominanz stirbt das Patriarchat, und Frauen gehen voran. Wir können uns entspannen und die neue Ära der Frauen begrüßen …
Frauenbefreiung ist erst der Anfang
Naja, so einfach ist es glaube ich nicht. Ich sage das nicht, weil Frauen diesen Einfluss noch nicht erreicht haben – ja, Frauen liegen noch immer in bedeutendem Maße bei Führungspositionen oder bei vielen ökonomischen Parametern weit zurück. Die männliche Elite hält die Zügel der Macht in allen Feldern fest in der Hand, einschließlich der traditionellen weiblichen Bereiche wie Erziehung. Der Grund, warum ich mit der Idee, dass Frauen die Welt regieren oder regieren sollten, nicht übereinstimme, basiert auf einer, wie ich es sehe, Fehlwahrnehmung des kulturellen Wandels, in dessen Mitte wir uns befinden. Wenn wir diesen Wandel zu allererst mit Frauen assoziieren, entgeht uns die tiefere Strömung dieses Wandels. Es muss weit mehr passieren, um Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu schaffen. Aber damit ein wirklicher Wandel in unserer Kultur möglich wird, müssen unsere Herzen und unser Geist sich für etwas öffnen, das über die Gleichheit von Männern und Frauen hinausgeht. Die tiefere Strömung des Wandels hat mit der Befreiung des menschlichen Bewusstseins zu tun, des weiblichen und des männlichen, was das Entstehen einer neuen Kultur ermöglichen wird. Damit das geschehen kann, muss unser Selbst-Verständnis als männlich oder weiblich, als Mann und Frau, eine tiefe Transformation durchlaufen.
Die Befreiung der Frauen markiert den Anfang dieser Transformation. Sie folgte der großen Bewegung der Überwindung der Sklaverei und garantierte allen Erwachsenen das Wahlrecht. Der Drang nach sozialer Gleichheit für Frauen erschütterte die Grundfesten der Gesellschaft – so begann die historische Teilung zwischen Arbeit und Familie, die die moderne Welt charakterisiert hatte, ihre Macht zu verlieren. Wir als Frauen versuchen immer noch, diese Teilung zu überbrücken, und fragen uns oft wie oder ob wir jemals die konkurrierenden Anforderungen der Kindererziehung und der Deadlines miteinander vereinbaren können. Dennoch verdeckt dieser Konflikt zu oft die Tatsache, dass das Überbrücken dieser Teilung zwischen der ehemals allein männlichen öffentlichen Welt und einer allein weiblichen häuslichen Welt das Menschsein der Frauen verändert. Um in der Welt der Arbeit und des öffentlichen Lebens bestehen zu können, mussten Frauen Fähigkeiten und Fertigkeiten kultivieren, die traditionell den Männern zugeordnet waren, wie Handlungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Intellekt, analytisches und strategisches Denken. Sogar im Sport überwinden Frauen Grenzen und Vorstellungen von Weiblichkeit, wenn sie bisher den Männern vorbehaltene Sportarten wie Boxen, Fußball, Bodybuilding und Gewichtheben praktizieren.
Das Problem ist zu oft, dass das weibliche Selbstbild sich nicht gleichzeitig mit den tatsächlichen Veränderungen in unserem Leben verändert. Das Wesen der weiblichen Identität ist immer noch fokussiert auf eine intime Beziehung, auf das Muttersein oder auf Fürsorge, als vielmehr darauf, ein eigenständiger Mensch für sich selbst zu sein. Nicht, dass irgendetwas falsch daran wäre, in einer intimen Beziehung oder Mutter sein zu wollen, aber das schmerzlich bohrende Gefühl, „Ich bin keine richtige Frau, wenn ich keine Kinder habe, keinen Mann habe oder keinen Liebhaber anziehe”, hält Frauen in alten, einengenden Denk- und Seinsmustern fest. Es beschränkt die Wahlmöglichkeiten der Frauen. Die amerikanische feministische Autorin Stephanie Coontz nennt das „eine zu starke Gewichtung der Gender-Identität statt unseres individuellen Menschseins.” Sie merkt an, dass dies eine Identifikation mit alten Werten ist, die uns davon abhält, ein Selbst zu schaffen, das frei auf die sich verändernden Umstände unserer Welten antworten kann. Egal, was wir imstande sind zu leisten, solange unsere Identität an Werte für Männer und Frauen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, gebunden ist, werden wir nicht frei sein, eine andere soziale Welt zu schaffen.
Neues Frau-Sein, neues Mann-Sein
Die Befreiung der Frauen von diesen alten Identitäten ist der Anfang einer anderen Beziehung zwischen Frauen und Männern. Auch wenn es für die meisten von uns heutzutage seltsam scheint, legte Friedrich Engels dar, dass die Rolle der Frauen in der Familie der Archetyp jeder Unterdrückung sei. Wieso? Als die Klassengesellschaft entstand, und das Zuhause des Mannes sein Königreich wurde, ermöglichten die Besitzrechte der Männer, dass sie eine effektive Kontrolle über die Hausfrau, die eigene Ehefrau, hatten. Heirat war ursprünglich ein Besitztausch, und die Braut war Teil des Besitzes. Das hatte zur Folge, dass sowohl die Existenz der Frau als auch ihr Selbstverständnis oder ihre Identität durch ihre Beziehung zu anderen – zu Männern, zum Ehegatten oder zu den Kindern – definiert wurde, anstatt als aktives, auf eigenen Füßen stehendes Subjekt gesehen zu werden. Die Marxisten waren der Ansicht, dass der Glaube der Frauen, sie würden glücklich ihr Anderssein wählen, gegenüber dem, der die wahre Macht und Kontrolle hatte, ein falsches Bewusstsein war, das die brutale Wahrheit der Unterordnung und Abhängigkeit der Frauen verschleierte. Heutzutage, wo Frauen die Fähigkeiten entwickeln, um aktive und autonome Subjekte zu sein, hängen viele von uns ironischerweise lieber an historischen Identitäten vom Anderssein, als die Freiheit und Verantwortung autonomen Subjektseins zu akzeptieren. Aus dieser untergeordneten Position des „Andersseins“ heraus können Frauen nicht frei und kraftvoll mit Männern kreativ zusammenarbeiten. Die eigene Bewusstheit und vollständige Intelligenz steht uns nicht zur Verfügung, wenn wir von der Zustimmung und der Bestätigung unseres Selbstseins durch jemand anderen abhängig sind. Der Wandel vom „Anderssein“ – oder Objektsein – inmitten einer sozialen und kulturellen Welt, die primär von Männern definiert wird, hin zu einem Subjekt, dem Handelnden seines eigenen Schicksals, schafft ein neues kulturelles Potenzial.
Ebenso müssen Männer Qualitäten und Fähigkeiten entwickeln, die traditionell eher Frauen zugeordnet waren, wie Kindererziehung und Fürsorge, um ihr Handeln zu transformieren. Das Handeln, das historisch mit Männern und Männlichkeit assoziiert wurde, waren radikale Unabhängigkeit und Undurchschaubarkeit, die Wechselbeziehungen und Verbundenheit fast unmöglich machen. Begrenzende Vorstellungen über das, was einen Mann ausmacht, schaffen auch eine „zu starke Gewichtung der Gender-Identität“, die Flexibilität und kreativen Austausch zwischen den Menschen behindert. Dadurch entstehen seltsame Ideen von Gender-Freiheit – als ob Freiheit von restriktiven Vorstellungen von Männlichkeit heißt, traditionelle Begriffe von Weiblichkeit zu übernehmen. Ein kürzlich erschienenes Titelblatt des New York Times Magazine, das sich auf ein Feature über neuerlich so genannte „gender-fluide“ Kinder (also Kinder mit fließender Geschlechtszuordnung) bezog, zeigt einen Jungen mit schwarzen im Wind fliegenden Locken, auf einem Roller sausend in rosafarbenen, durchscheinenden Kleidern. Ein ähnliches Foto eines Mädchens in Jungenkleidern würde allerdings nicht als „gender-fluid“ betrachtet werden. Geschlechtsumwandlungen von männlich zu weiblich sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und sind populärer als von weiblich zu männlich, was nahelegt, dass Männlichkeit als begrenzender erfahren wird als Weiblichkeit. Dieses extreme Beispiel weist auf die Tiefe des Glaubens hin, dass Männlichkeit sich so von Weiblichkeit unterscheidet, dass beide Qualitäten nicht in einem Körper existieren sein können.
Befreiung der Frauen, Befreiung des Menschen
Die Trennung zwischen der Welt der Familie und der Arbeitswelt hat eine innere Trennung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit geschaffen. Der Glaube, dass diese Polarität die richtige und wahre Beziehung zwischen Männern und Frauen zum Ausdruck bringt, ist ein enormes Hindernis für Transformation. Es ist diese Grundannahme, die zu viele Frauen dazu bringt, sich in Beziehungen mit ihrem Anderssein zu identifizieren –gewollt oder gebraucht zu werden, als vielmehr zu versuchen, die eigenen Wünsche und das eigene Schicksal als aktive Mitgestalterin von Wandel und Potenzial zu erfüllen. Das ist auch die Grundannahme, die zu viele Männer in einer isolierten Haltung festhält, die wirklichen Dialog und tiefe Begegnung mit anderen verbietet. Sogar der populäre Begriff des „Ausbalancierens“ des Männlichen und Weiblichen in einem selbst beginnt immer noch mit der Prämisse, dass bestimmte Eigenschaften angemessener für Frauen oder für Männer sind. Ist kreatives Handeln nicht das Geburtsrecht eines jeden Menschen? Wollen wir nicht, dass Fürsorge eine universale Eigenschaft ist, die wir alle in immer größer werdenden Kreisen von Empathie und Verantwortung für andere kultivieren? Die Fähigkeiten und Eigenschaften, die zwischen uns Frauen und Männern aufgeteilt wurden, sind menschliche Eigenschaften. Alle Menschen, weiblich und männlich, verdienen die Freiheit, sie kultivieren zu können.
Dennoch, wie ich sowohl in der unvollendeten Frauenbewegung als auch in meiner eigenen Erfahrung sehe, ist es nicht leicht, über die Identitäten hinauszugehen, die so tief von der Geschichte und kulturellen Erwartungen konditioniert wurden. Darüber hinaus werden jedes Jahr Milliarden von Dollar investiert, damit Frauen denken, dass ihre tiefste und wahrste Macht aus sexueller Attraktivität kommt. Weitere Milliarden werden in der Pornografie- und Spieleindustrie ausgegeben, um jungen Männern das Gefühl zu geben, eine Berechtigung zu Sex, Kontrolle und Macht zu haben. Aufreibende Kräftespiele zwischen Männern und Frauen werden als natürlich beschrieben, als ob sie einfach gegeben wären. Das macht wahrhaft gleichberechtigte Beziehungen zwischen Männern und Frauen äußerst selten.
Um jenseits der geschlechtsbestimmten Teilung zu treten, die uns nicht nur voneinander, sondern auch von Fähigkeiten in uns selbst trennt, um gemeinsam in Partnerschaft etwas Neues schaffen können, müssen wir uns unserer tieferen Natur bewusst werden: Bewusstsein. Die tiefste Dimension unseres Selbst ist Bewusstsein – reines Gewahrsein oder GEIST. GEIST hat kein Geschlecht. Er ist ungeteilt, schon ganz und frei von dem konditionierten Selbstgefühl, das unsere Vorstellung von dem, wer wir sind und was wir sein können, begrenzt. Wenn wir unsere Erkenntnis dieses tiefsten Selbst kultivieren und vertiefen, erlangen wir die innere Freiheit, dem Leben jenseits kultureller Konditionierungen zu begegnen. Aus diesem erleuchteten Gewahrsein des GEISTES als Grund unseres Selbst entdecken wir, dass wir von Natur aus ungetrennt und Teil von etwas viel Größerem als wir selbst sind. Frauenbefreiung ist der erste Schritt im Prozess der Befreiung der Menschen – der den Frauen und dann den Männern die Erlaubnis gibt, sich selbst von den eingeengten Rollen und beschränkten Identitäten zu befreien, die unsere Fähigkeit zu voller, kreativer Partnerschaft miteinander blockieren. Die Befreiung der Menschen durch den GEIST ist das Ziel. Und ich denke, es wird höchste Zeit.
Dr. Elizabeth Debold erwarb an der Harvard University ihren Doktorgrad in Entwicklungsstudien und Psychologie und forschte unter der Leitung von Dr. Carol Gilligan. Sie ist führende Expertin in der Genderforschung und Ko-Autorin des Bestsellers “Die Mutter-Tochter-Revolution”. Sie leitet das Artemis-Forum, Webportal und Netzwerk für eine neue Frauenbefreiung, inkl. regelmäßiger Podcasts mit Elizabeth Debold.
www.elizabethdebold.com
www.artemisforum.com