Ein Künstler der intuitiven Welt
Ein Interview mit Deviprasad C. Rao
Die Ausgabe 19 von evolve gestalteten wir mit den Arbeiten des Künstlers Deviprasad C. Rao. Wir sprachen mit ihm über seine Kunst.
evolve: Sie bezeichnen sich selbst als »Künstler der intuitiven Welt«. Was meinen Sie damit?
Deviprasad C. Rao: Wenn ich sage, ich sei Künstler der intuitiven Welt, meine ich damit, dass ich ohne irgendwelche vorgefassten Meinungen, Ideen oder Konzepte arbeite. Es ist wie beim Zen, wo es heißt, der Anfängergeist ist immer leer und offen für alles. Ich erschaffe spontan. Ich nenne meine Arbeit auch deshalb intuitiv, weil ich im schöpferischen Akt meinen Intellekt nicht zu sehr bemühe. Denn ich verfüge gar nicht über diese intellektuelle Kraft, die Fähigkeit, etwas erst mit Worten auszudrücken und es danach bildlich sichtbar werden zu lassen. So bin ich nicht. Wenn ich etwas erschaffe, dann lasse ich mein inneres Kind lebendig werden. Ich bin offen wie ein Kind, das immer im Hier und Jetzt ist. Wenn ich anfange, dann geschieht es einfach. Ich habe keine Entwurfszeichnungen, keine Skizzen von dem, was ich male. Stattdessen erarbeite ich mir einen visuellen Wortschatz, mit dem ich neue visuelle Geschichten erzähle, die auf mein inneres Selbst wirken.
Was mich inspiriert und mir hilft, mich auszudrücken, sind menschliche Schöpfungen. Die Natur bietet mir keine Überraschungen. Die Natur macht mich friedlich, fröhlich und glücklich. Sie ist allgegenwärtig und einfach präsent. Ich kann sie nicht verändern und nichts von ihr zum Ausdruck bringen, denn ihre Schönheit übersteigt meine Fähigkeiten des Erfahrens und des Ausdrucks. Was von Menschen erschaffen wurde, löst hingegen jede Menge Emotionen und Gedanken bei mir aus. Sobald ich eine Zeitung aufschlage oder den Fernseher einschalte, fließen alle möglichen Gefühle und Gedanken durch mich hindurch. Was ich sehe, berührt mein inneres Kind, und ich beginne zu malen. Denn im Zustand des Kreierens ist mein inneren Kindes lebendig und ich kann in Verbindung mit ihm sein. Ich kann das nicht aus dem sogenanten Zustand des Erwachsenseins oder der Intellektualität heraus und nicht aus dem einer sogenannten reifen oder intellektuellen Persönlichkeit. Ich lasse mein inneres Kind sich ausdrücken und frei entfalten.
Was mich besonders verblüfft, erstaunt, schockt oder überrascht, sind Werke der Architektur – riesige Bauwerke, Städte, Maschinen, haushohe Kräne und Industriebauten wie beispielsweise in Duisburg. Ich habe eine ganze Serie über diese riesigen Fabriken gemacht, die zwar geschlossen sind, aber für die Öffentlichkeit als Parks und Erholungsgebiete zugänglich gemacht wurden. Diese riesigen Kessel, die Röhren und Schlote erstaunen mich einfach durch ihre Größenordnung. Solche Eindrücke bieten mir die Inspiration, etwas zu erschaffen. In meinen Kreationen geht es nicht um die sehr tiefen und komplexen Dinge. Ich lasse das intuitive Gefühl, das ich innerlich verarbeite, in meine Arbeit einfließen.
Vor sechs Jahren kam ich zum ersten Mal nach Europa und verliebte mich sofort in die Architektur dieser Städte. Nehmen Sie Lissabon, diese Straßen, diese Gassen, die Gebäude, sie haben alle etwas Antikisches. Oft war ich auch in Deutschland, in Duisburg, Düsselfdorf, Bamberg, München, Frankfurt, Heidelberg, Berlin oder in den Städten am Rhein. Dort gibt es so viel kunstvolle Architektur. Mich erstaunt, dass sie geschaffen werden konnte, obwohl die Menschen nicht die Technik hatten, die uns heute zur Verfügung steht. Heute schaffen wir hauptsächlich Betonblöcke in unterschiedlichen Formen. Wir haben eine gewisse Perfektion erreicht, aber für die Menschen war das Unvollkommene die wahre Perfektion. Ich fühle mich zu dieser Art Unvollkommenheit hingezogen, denn gerade Linien langweilen mich. Meine Linien sind ungekünstelt, wackelig, nicht fein gezogen, unvollkommen.
e: Wenn Sie über die Faszination sprechen, die Gebäude oder Städte auf Sie ausüben, geht es da nur um das Staunen oder wollen Sie auch zum Herzen, zur Seele einer Stadt oder eines Gebäudes vordringen?
DR: Zuerst spüre ich, wie sich für mich ein Sinn ergibt, wie eine Stadt mich verführt. Ich gehe in jede Straße und um jede Ecke, und da gibt es dann vielleicht etwas, das mich glücklich macht, oder etwas, das mich wirklich berührt. In den europäischen Städten, etwa in Portugal, Deutschland oder Frankreich findet man eine Mischung von Modernem und Altem, Altes und Neues verschmelzen. In solchen Städten geschieht dann eine Art Explosion in mir. Das ist der Zustand, aus dem ich versuche, die Stadt in meinen eigenen Perspektiven, Ideen, Sichtweisen und Visionen erfassen, die dann in meine Bilder einfließen.
Ja, ich versuche schon, die Seele der Stadt zum Ausdruck zu bringen – ich weiß nicht, was für andere die Seele ist, aber ich versuche sie aus meiner Perspektive darzustellen. Oft erschaffe ich die Stadt auch neu, auf meine eigene, kindliche Weise. Es gibt einige reale Dinge in der Stadt, die ich in meinen Gemälden so lasse, wie sie sind, dann wieder beschreibe ich mit meinen Linien und Farben ihre Dichte und Intensität. Ich versuche, die Seele anhand der Farben, einiger bekannter Punkte und anhand der Formen darzustellen. Ich versuche, den Leuten meine Perspektive oder meine Vision der Stadt zu zeigen.
e: In Ihren Gemälden arbeiten Sie viel mit Strichen, Kritzeleien und Formen, die aus einer gewissen Verspieltheit oder Kreativität entspringen. Wie sieht der Prozess, ein Kunstwerk zu erschaffen, für Sie aus?
DR: Das Verspielte kommt von dem Kind in mir. Die Kunst kam nämlich als Therapie in mein Leben. Ich habe nie Kunst studiert. Zu einem bestimmten Zeitpunkt geriet meine Ehe in Schwierigkeiten und ich ging durch traumatisierte Probleme. Das Ganze hätte mich beinahe zerstört, ich wollte mich beinahe umbringen. Damals wollte ich mich heilen, da kam das Malen ganz natürlich zu mir. In diesem Prozess merkte ich, dass mein inneres Kind tot war. Der Prozess bestand für mich darin, das Kind wieder zum Leben zu erwecken, um mich neu zu finden. Vor langer Zeit bin ich durch einen Prozess mit Meditation und Therapie gegangen. Schließlich habe ich mich als ein kindlicher – nicht kindischer – und humorvoller Mensch neu gefunden.
In diesem Zustand bin ich schöpferisch. Ich kann nur dann etwas erschaffen, wenn ich glücklich bin. Es ist keine Therapie mehr, es ist eine Art zu Leben. Es ist Meditation, aber es muss auch spielerisch sein. Das Verspielte kommt aus meiner Individualität, die im Laufe der Zeit spielerisch geworden ist. Ich möchte alles mit Humor und als Spiel betrachten. Manchmal ist meine Kunst auch sehr ernst, weil es meine Antwort auf meine Umgebung ist, und ich möchte auch meine verschiedenen Gefühle und Emotionen erforschen. Wenn ich in einem Zustand der Verspieltheit bin, sehe ich die Dinge sehr einfach, und kann dadurch auch Komplexität akzeptieren.
Linien und Punkte sind ein integraler Teil meiner inneren Bildsprache, ohne Linien und Punkte kann ich die Dinge nicht wahrnehmen. Manchmal konstruiere ich ein Gemälde und dekonstruiere es dann wieder durch Punkte und Linien. Oder ich schaffe eine Stadt mit Schichten von Farbe, viele Menschen würden es als ein vollendetes Gemälde betrachten, aber da höre ich nicht auf. Ich tropfe meine Linien darauf, mit einer Technik, die von der Kunst Jackson Pollocks inspiriert wurde. Ich zeichne Linien auch mit Bambusstäben, Kupferstäben oder mit Baumrinde.
e: Sie tun das, weil diese Linien und Punkte eine gewisse Einfachheit aufweisen? Oder ist das einfach die Art und Weise, wie Sie wahrnehmen?
DR: Ja, das ist einfach die Art und Weise, wie ich die Dinge wahrnehme, und ich mag die Einfachheit, aber es verleiht meiner Arbeit auch ein neues visuelles Erscheinungsbild. Es gibt zu viele Kunstwerke auf der Welt, und in solch einer Welt möchte ich gehört werden. Das treibt mich dazu an, meine eigene visuelle Sprache zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte kein Künstler werden, der etwas erschafft, das sehr genau ausgearbeitet oder naiv ist. Ich möchte etwas schaffen, was für die Menschen nicht so offensichtlich zu verstehen und leicht zu verarbeiten ist. Ich möchte Neugier im Betrachter wecken. Ich möchte Bilder malen, die jeden Tag mit den Menschen weiterwachsen. Viele Menschen, die eins meiner Werke gekauft haben, sagen mir oft, dass sie jedes Mal, wenn sie es anschauen, etwas Neues darin entdecken. Das entspricht meinem grundlegenden Anliegen. So wird ein Gemälde ein Referenzpunkt für die Selbstreflexion des Betrachters. Das Gemälde sollte dir zeigen, was du in dir alles noch bist. Denn was du in dem Gemälde siehst, reflektiert deinen gegenwärtigen Zustand des Bewusstseins oder Selbst. Mein Wunsch ist, dass meine Bilder nicht viel interpretiert, sondern erfahren werden.
e: Sie haben gesagt, Ihre Arbeit solle nicht interpretiert, sondern erfahren werden. Gibt es etwas Bestimmtes, was Sie mit Ihrer Arbeit bei den Menschen hervorrufen wollen?
DR: Ja, ich provoziere den Betrachter, ich fordere sein eigenes inneres Selbst heraus. Die meisten wenden sich dann ab. Das ist einfach. Deshalb besteht mein Ziel nicht darin, den Leuten Gedanken oder intellektuelle Inhalte zu vermitteln, sondern ihre eigene wunderschöne innere Intelligenz wachzurufen. Denn für mich zählt nicht die Persönlichkeit, die falsch oder aufgezwungen ist, die Individualität ist für mich viel wichtiger, weil ich damit geboren wurde. Diese Individualität will ich wachrufen, und das meine ich in einem sehr subtilen, anmutigen und spirituellen Sinne. Ich versuche mit meinen Arbeiten, ihnen dabei zu helfen, mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig handelt es sich um ein Kunstwerk, es hat seinen eigenen ästhetischen Wert. Ich sorge dafür, dass meine Bilder räumlich gut ausbalanciert sind, und das geschieht intuitiv.
e: Sie sind zur Kunst eher auf der Suche nach Heilung und spiritueller Einsicht gekommen. Wie spiegelt sich diese Dimension in Ihrer Kunst wider?
DR: Bei meiner Arbeit versuche ich, Frieden zu finden inmitten der Dichte und Intensität des Lebens. Mich selbst zu finden inmitten des Chaos. Die Gestaltung meiner Arbeit ist in sich immer schon ein Akt der Rebellion. Mit Rebellion meine ich nicht, dass ich gegen die Strukturen angehe, sondern ich rebelliere gegen mein eigenes konditioniertes Selbst. Ja, ich rebelliere nur gegen meine eigenen Konditionierungen. Und dadurch kann ich mich stets weiter entwickeln. Mein Wachstum betrachte ich nicht unter der Perspektive meines biologischen Alters, meiner Erfahrung, meines Erfolges oder meines Wohlstandes. Ich versuche, mich und meine Kunst danach einzuschätzen, wie viel an Evolution ich in mein Leben gelassen habe und was ich zur Existenz als Ganzes beigetragen habe. Die innere Evolution ist für mich wichtiger. Ich folge niemandem, ich folge nur mir selbst. Die Kunst kommt aus der Tiefe meines Inneren.
Ich mache meine Kunst nicht der Welt zuliebe, damit sie sie gutheißt. Wenn ich ein Werk anfange, dann es ist es für niemanden, meist auch nicht für mich selbst. Wenn ich es fertigstelle, ist es auch nicht für mich. Es ist für alle. Es ist für die Welt. Diese Existenz hat mich zum Künstler gemacht, und ich gebe meine Werke wieder der Existenz hin. Ich erwarte keine Gegenleistung. Wenn ich etwas bekomme, nehme ich es als Geschenk oder Segen an, auch wenn es eine Kritik ist.
e: Sie sind in Indien geboren, haben aber viel in Europa gearbeitet. Inwiefern hat Ihr Blick auf die Beziehungen zwischen Ost und West Ihre Arbeit beeinflusst? Wie hat sie sich im Laufe der Jahre verändert?
DR: Am Anfang bin ich mir hier wie ein Tourist vorgekommen, bis ich dann wirklich hierher gezogen bin. Trotzdem, es ist mir nicht schwergefallen. Alles Neue hilft mir, alles Neue schenkt mir eine Art von Ekstase. Schon bevor ich nach Europa kam, konnte ich das westliche Bewusstsein wertschätzen und selbst entwickeln. Es war nicht so schwer, den Westen wahrzunehmen, weil ich ihn schon in mir drinnen hatte. Indien ist in vielerlei Hinsicht sehr konservativ, die westliche Perspektive hat mich befreit und meine Sicht der Welt in Balance gebracht.
Meine Kunst hat anscheinend eine Verbindung mit Europa. Sogar daheim in Indien haben die Leute in meiner Arbeit Einflüsse von europäischen Meistern festgestellt, die ich damals noch gar nicht kannte, etwa Paul Klee oder Joan Miró. Dann habe ich angefangen, mich selbst zu bilden, und fand mich sehr beeindruckt von Joan Miró, wegen seiner kindlichen Herangehensweise.
Ich bin tief in Indien verwurzelt. Ich wurde in eine sogenannte Hindu-Familie geboren, aber in Indien hieß es, die ganze Welt sei eine Familie. Meine indische Identität ist also mit diesem Verständnis einer universalen Familie verknüpft. Ich lerne immer gern Menschen aus anderen Kulturen und Religionen kennen. Indien hat mir auch ein spirituelles Leben gegeben. Und jetzt lebe ich hier in der westlichen Welt, wo den Menschen die spirituelle Essenz in ihrem privaten Leben fehlt.
Indien hat mich viele wunderschöne Dinge gelehrt, die nun Teil meiner Lebenserfahrung sind und bleiben werden. Aber seit meiner Kindheit konnte meine Seele nicht glauben, dass sie lediglich Teil einer Familie, Kaste, Religion, Gesellschaft, einer Stadt, eines Staates, Landes oder Kontinents ist. Ich fühle mich als Teil der ganzen Existenz, ein gewöhnlicher Bürger dieser Welt (gewöhnlich sein ist die friedvollste Lebensweise in dieser komplizierten Welt, die voller komplizierter Persönlichkeiten ist).
e: Sie haben in Indien auch Kunst unterrichtet. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
DR: Ja, ich habe Kunst unterrichtet, aber das Ziel meines Unterrichts war nicht, Künstler heranzuziehen. In meinem Unterricht ging es nicht darum, etwas zu lehren, sondern darum, den Kindern zu helfen, kreativ zu sein. Ich habe vor einiger Zeit erkannt, dass wir nicht lehren und nicht lernen können, sondern dass wir einander helfen können, zu lernen. Ich bin überzeugt, dass Kreativität in jedem Lebensbereich nötig ist – wenn du die Wohnung putzt oder aufräumst oder wenn du Pilot, Arzt, Ingenieur, Anwalt – was auch immer – werden willst. Aber die Kreativität muss vorhanden sein, sie ist eine angeborene Fähigkeit. Ich unterstütze Kinder darin, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Ich frage sie, wieso eine Rose eigentlich rote Blüten und grüne Blätter haben muss, sie könnte ja vielleicht auch andere Farben haben. Ich halte das für wichtig, denn die Kinder erschaffen die Zukunft. Sie brauchen neue Perspektiven, um in der neuen Welt zu leben, in der die alte Welt Vergangenheit ist.
Ich habe auch versucht, eine kreative Gruppenatmosphäre zu gestalten, in der die Kinder miteinander kreativ sein konnten. Sie haben die ganze Zeit gelächelt und gelacht, waren fröhlich und hatten ihren Spaß miteinander. Ich habe versucht, ihnen die Qualität von Humor, von Glücklichsein nahezubringen, denn ich bin der Überzeugung, das wahre Fest des Lebens besteht darin, dass du dich fürs Glücklichsein entscheidest, egal wo du bist und wie es dir geht. Wenn du voraussetzungslos glücklich bist, bist du im Frieden. So kann man sich selbst in Balance bringen, man braucht keinen Psychiater, um inneren Frieden zu finden. Ich glaube, dass wir mit einem großen Lächeln ins Leben gekommen sind und mit einem großen Potenzial. Nur die Konditionierung der Umwelt macht uns schwach und verletzlich gegenüber all den verschiedenen Dingen, die uns formen. Ich habe versucht den Kindern zu zeigen, dass sie wunderschöne Seelen sind. Und dass sie hier auf Erden sind, um mit ihrem Denken, Fühlen und Handeln Schönheit in diese Existenz zu bringen. Darum ging es in meinem Kunstunterricht, und genauso lebe ich mein eigenes Leben.
Deviprasad C. Rao wurde in Indien geboren und lebt heute in der Schweiz. Vor vielen Jahren gab er seinen Job in PR & Marketing aus, um sich ganz der Kunst zu widmen, die er autodidaktisch lernte.