Eine Rezension des Buches „Die
Atemlehrerin“ von Christoph Ribbat
Andrea Klaßen
„Die Entspannungsexpertin ist nicht entspannt“, so beginnt die spannende Geschichte von Carola Spitz. Wie ein Roman liest sich die unkonventionell, verschachtelt und nicht chronologisch erzählte Biografie. Christoph Ribbat hält die Leser bis zum letzten Satz in Atem, als Carolas Tochter Dorothea tief Luft holt, um die brennenden Kerzen auf ihrer Torte zu ihrem 85.Geburtstag auszupusten.
Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt der Autor die Lebenswelt von Carola Spitz, einer deutschen Emigrantin in New York, 1901 als Carola Joseph in Berlin geboren und mit 98 Jahren in New York gestorben. Ribbat gelingt es durch seinen klaren wie subtilen Stil, die Geschichte von Verfolgung, Flucht und Vernichtung mit den oft amüsanten Details von Atemübungen zu verknüpfen. Ein enormer Kontrast, die Achtsamkeit im denkbar unachtsamsten Jahrhundert zu untersuchen.
Alles dreht sich in dem Buch um das Atmen, auf den unterschiedlichsten Ebenen. Ribbat berichtet über die Luftverschmutzung im New York der fünfziger Jahre, einer Welt, in der man nicht mehr atmen kann, und über Carola Spitz, die mitten in dieser Welt versucht, ihren Schülern und Schülerinnen in ihrem Studio am Central Park West das bewusste Atmen beizubringen. Vor dem Unterricht drücken einige noch schnell ihre Zigaretten aus. Auch Carolas Mann Otto lebt vom Atmen und der Stressbewältigung anderer Leute. Der jüdische Tscheche war Geschäftsführer einer Zigarettenfabrik in Berlin-Moabit. 1937/38 befreit Carola Spitz ihren Mann aus der Haft und ermöglicht damit die Emigration der Familie. Ein Jahr später beschließen deutsche Juristen, Mediziner, Unternehmer und Offiziere gemeinsam, Juden nicht nur durch Erschießung zu Tode zu bringen, sondern in Gaskammern zu ersticken. 1944 wird auch Carolas Mutter in Auschwitz ermordet, was die Tochter nur beiläufig erwähnt. Die Biografie macht deutlich, wie Carola die Ermordung ihrer Mutter (wie ihres Bruders) in Auschwitz konsequent nicht thematisiert. Damit macht der Autor ein auch typisches Verhalten dieser Generation anschaulich.
Seit den vierziger Jahren betreibt Carola ihr eigenes, unabhängiges Forschungsstudio für Körperliche Umerziehung. Ribbat lässt den Leser eintauchen in die Atmosphäre und den Geist ihres Studios. Hier wird gespürt und der Atem erforscht. „Let the body do its own thing“, „be open-minded“ „notice what is“ heißt es in ihren Stunden. In den Kursen geht es um das gefühlsmäßige Aufsuchen körperlicher Zustände. Nicht mit dem Kopf soll wahrgenommen werden, sondern mit dem Körper. Je mehr der Mensch über seinen Körper weiß, davon war Carola überzeugt, desto besser geht es ihm. Sie verspricht ihren Schülern mehr Vitalität, Effizienz und Elastizität.
Das Buch erzählt auch von der Freundschaft zwischen Carola und Charlotte Selver, mit der sie ihr Studio in New York gegründet hat. Über zehn Jahre führen sie das Studio gemeinsam, bis es schließlich zu einem Bruch zwischen den beiden Gymnastiklehrerinnen kommt und Charlotte sich zu Beginn der fünfziger Jahre von der Tradition der körperlichen „Arbeit“ abwendet und sich dem berühmten Esalen-Institut im kalifornischen Big Sur anschließt. Selver wird damit ein Teil der amerikanischen Kulturgeschichte, Carola bleibt eine relativ unbekannte Gymnastik- und Atemleherin in Manhatten.
Schon in Deutschland waren die beiden befreundet und ließen sich hier von Elsa Gindler inspirieren. Elsa Gindler (1885 – 1961) war eine deutsche Gymnastiklehrerin, und Begründerin einer Form der Gymnastik und Bewegungstherapie. Da sie ihrer Schule weder einen theoretischen Überbau noch einen zugkräftigen Namen gab, wird heute häufig von „Gindler-Arbeit“ oder „Therapie nach Gindler“ gesprochen. Hauptmerkmal dieser Arbeit ist die behutsame Förderung der Selbsterfahrung und der Entfaltung der natürlichen Anlagen. Ihre Ansätze wurden von der Körpertherapie bzw. Körperpsychotherapie aufgenommen. In der Schule für harmonische Gymnastik in Berlin setzte Gindler nicht auf Übungen, Wiederholung und Korrektur, sondern auf die achtsame Erkundung des eigenen Körpers.
Carola Spitz ist eine vergessene Heldin des 20. Jahrhunderts. Auch wenn sie die Welt nicht verändert hat, war sie eine jener Migrantinnen der Moderne, denen es trotz so vieler Widerstände und Tragödien gelungen ist, in einer neuen Kultur anzukommen, eine Nische zu finden und das eigene Wissen und Können vielen Menschen zu vermitteln. Bis zwei Monate vor ihrem Tod, im Jahre 1999, unterrichtet sie ihre Schülerinnen.
Ihr Leben ist auch ein Beispiel für die Spannungen des 20.Jahrhunderts, die so viele Biografien zerstörten, limitierten und anders als geplant verlaufen ließen. Ihre Lebens-, Berufs- und Familiengeschichte beleuchtet enorme Privilegien einerseits und völlige Entrechtung andererseits. Sie beinhaltet vornehme Berliner Bürgerlichkeit wie aggressiven deutschen Antisemitismus, achtsame Selbsterkundung wie industriellen Massenmord.
Eine besondere Stärke des Buches liegt in den dichten Beschreibungen und aufmerksamen Beobachtungen von den Widersprüchlichkeiten des menschlichen Daseins, ohne je anzuklagen oder zu urteilen.
Ein wunderbares Buch.
Andrea Klaßen ist Kunsthistorikerin M.A. und schrieb ihre Magisterarbeit 1991 über die Entstehung der abstrakten Kunst. Sie arbeitet als Feldenkrais-Lehrerin und Dozentin an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. www.movingmatters.de