Reflexionen von Dr. Karsten Beuchert, Dr. Ingrid Gardill und Doris Rafaela Castillo Cueva
„Wie können wir Wissen so verantwortungsvoll vermitteln, dass es zur Bildung wird, jenseits von bloßer Wissensvermittlung?“ Das fragt die Initiative Street Philosophy® zur Bildungskonferenz „Beyond Knowledge“ und greift damit ein grundlegendes Thema unserer Gesellschaft auf. Und es ist tatsächlich beeindruckend, was die zwei Gründerinnen von Street Philosophy®, Julia Kalmund und Nina Schmid als Team aus Mutter und Tochter, im Februar 2019 gemeinsam „auf die Beine stellen“, indem sie höchstkarätige Referentinnen und Referenten zusammen- und auf die Bühne des Literaturhauses München bringen.
Das Anliegen von Street Philosophy® ist es nach eigener Bekundung, „Menschen zueinander zu bringen, die der allgemeinen Verdrossenheit mit Verantwortung begegnen möchten und bereit sind, die eigene Weiterbildung als Grundlage für eine positive Gesamtentwicklung zu sehen“. Und was aus dieser Absicht entsteht, löst tatsächlich Freude aus – die Freude, in dieser Welt einmal mehr Verbindung als Trennendes zu sehen –, und zu erfahren, wie solch ein ambitioniertes Projekt mit einer anderen Bildungs-Initiative zusammenfindet: Denn die Akademie für Politische Bildung Tutzing bot als Ergänzung zur Konferenz zwei Wochen später einen Workshop mit dem Titel „Bildung für die Demokratie“ an.
Das Literaturhaus bietet der Bildungskonferenz einen stimmigen Rahmen mit angenehmer Atmosphäre. Die Organisation wirkt auf ebenfalls angenehme Weise professionell. Die Veranstaltungsteilnehmer bilden eine (durchaus erfreuliche) heterogene Gesellschaft: viele junge Menschen, auch viele ältere, etliche eher leger, einige seriös in „Business Style“. Es scheint eine gewisse atmosphärische Spannung in der Luft zu liegen, die sich zwanglos mit Vorfreude bis Erwartungen auf die hochkarätige ReferentInnen-Liste in Zusammenhang bringen lässt.
Die Konferenz beginnt pünktlich. Der eigentliche Schirmherr, S. K. H. Ludwig Prinz von Bayern, ist für „Learning Lions“ ( www.learninglions.org ) unterwegs, sein IT-Bildungsprojekt in Afrika, und wird von seiner Schwester vertreten, Dr. Auguste von Bayern, Prinzessin zur Lippe, die sich mit Kinder- und Jugendbildung im Bereich Naturwissenschaften und Fragen des Wissenstransfers zwischen Sozial- und Naturwissenschaften beschäftigt und von „Biotopia Bayern“ erzählt, einem geplanten Naturkundemuseum an der Schnittstelle von Lifesciences, Natur, Kultur und Design – „unsere Umwelt und Leben neu entdecken“.
Im Lichte einer kaum überstandenen Erkrankung (und davon noch sichtlich geschwächt) ist es bewundernswert, mit welcher Energie Nina Schmid als Moderatorin die ReferentInnen im Laufe des Abends ankündigen wird. Sprache und Bildung werden herangezogen, um den Menschen als Kulturwesen vom Tier zu differenzieren. Bob Dylan wird damit zitiert, dass Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet – nicht als Bürde, sondern als Privileg. Erfolg sei die Entfaltung und Ausschöpfung von Potenzialen, und bei Bildung gehe es um die Entfaltung der individuellen Potenziale.
Die erste Vortragende ist die Philosophin und Autorin Ariadne von Schirach zum Thema „Lob der Bücher – Warum Bildung glücklich macht“ – eine offensichtlich geübte Präsentatorin, die ihr Publikum routiniert zu unterhalten weiß. Es gehe um den Weg „vom Ich zum Wir“ und darum, „die Welt nicht nur hinzunehmen, sondern zu bewohnen“. Sokrates wird zum Thema „Lernen“ zitiert, Kierkegaard zum Thema „Mitgefühl“, und Lin Yutang zur „Weisheit des lächelnden Lebens“. Der Mensch wird mit seinen Freiheitsgraden als „das unbestimmte Tier“ erkannt, Bildung als „Arbeit am eigenen Inneren“ und dann als „Formung des Menschen für sein Menschsein“. Das 21. Jahrhundert brauche Ambiguitätskompetenz, erklärt von Schirach. Und es gehe heute vor allem darum, „den Geist aus seiner bürokratischen Verbannung zu befreien“, damit Philosophie wieder mehr werde als nur Nekromantie. All dies wirkt wohlformuliert und mit höchster Eloquenz ein bisschen provokant dargeboten – und (ganz im Sinne des Themas) sehr belesen. Und einige Formulierungen laden tatsächlich zum tiefen Nachdenken ein, so z. B. „der Mensch als das unbestimmte Tier“.
Mit dem Philosophen Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, der über seine Gedanken zu „einer Philosophie humaner Bildung“ referieren wird, betritt eine „völlig andere Energie“ die Bühne. Die Philosophie sei eine Reflexionswissenschaft, so führt er aus, die in der Schule fehle, wie generell auch Zeit und Raum zum Nachdenken – in diesem Sinne sei die hektische „Reformitis“ der Schulsysteme zu überwinden. Mit Referenz auf Wilhelm von Humboldt erklärt er, dass in unserem Schulsystem das weiterführende Potenzial von Irritationen fehle, und dass Bildungsanspruch und Bildungsziele sich aus der Antwort auf anthropologische Fragen ergeben sollten: „Wer wollen / sollen wir sein“? In indigenen Gesellschaften entstehe Bildung durch Vorbilder und deren Nachahmung, in unserer werde versucht, sie über das Schulsystem zu vermitteln – was aber bereits in der Grundschule zu einer Selbstentfremdung der Kinder führe. Generell überwiege in unserem Schulsystem die kognitive Dimension des Lernens, sodass fast ausschließlich diese Kompetenzen gelehrt und gelernt werden. Eine grundlegende Kompetenzorientierung finde nicht statt, in dem Sinne, dass die tatsächlichen individuell eigenen Kompetenzen der Kinder gefördert würden. Ethik und musische Fähigkeiten würden marginalisiert (und, so möchten wir ergänzen, gleichermaßen die Komplexitätskompetenz, die aus der Erfahrung der eigenen komplexen Physis in der Gymnastik entstehen könnte, die unabdingbar zum antiken Bildungskanon gehörte). Als Bildungsziele seien aber Bindung und Selbstwirksamkeit wichtig; eine Einheit von Bildung und Wissen, von Gemeinschaft und Gesellschaft; die intrinsische Motivation der Schüler: ein grundsätzliches und selbstmotiviertes „ich will“ zur Bildung (und damit zum Lernen). Für eine Schärfung der Urteilskraft, für eine humane Bildung des ganzen Menschen, für die Kohärenz seiner emotiven und kognitiven, ästhetischen und ethischen Erfahrungen und Einstellungen.
Mit der Bewegungsspezialistin Hannah Rödiger, gleichzeitig neuronaler Performance-Coach, kommt nun die zuvor vermisste Gymnastik als Brain Act und angewandte Neurologie auf die Bühne, um dem Publikum zwischen den Vorträgen mit ein paar sensorischen Übungen wieder zu Energie und Konzentration zu verhelfen. Wir stünden, so Hannah Rödiger, „mit einem Fuß auf dem Gas und mit dem anderen auf der Bremse“, und meint damit anscheinend unsere Gesellschaft.
Und wieder ändert sich die „Energie“ auf der Bühne: Aga Trnka-Kwiecinski, die österreichische Referentin, an die man sich ihrer eigenen Bekundung nach als „die Schwangere mit dem mutigen Brillenmodell“ erinnern wird, hält ein „Plädoyer für mehr Provokation in der Bildung“, für „Provokationspädagogik“. In wie eingefahrenen Bahnen wir uns häufig bewegen, illustriert sie am Beispiel eines Seminars, in dem die Teilnehmer Regeln meinten übernehmen zu müssen, die von den Seminarleitern gar nicht ausgegeben worden waren. „Wie ist es mir gelungen, mit meiner Klasse heute in Beziehung zu treten?“ – dies sei eine der relevanten Fragen. Bildung sei ohne Emotion nicht denkbar: Das Hirn sei ein Emotionsspeicher, und es gehe nicht um mehr Lehrkräfte, sondern um Lehrpersönlichkeiten und ihre Haltung, die nicht nur Beziehung zu den Lernenden aufbauen können, sondern die auch die Fähigkeit haben, zu provozieren, und auch zu irritieren. Es gehe um Wachstum und Verbundenheit. Um beziehungsfähige und eigenverantwortliche Menschen, die auch subversiv sein können. Bildung müsse erlebt werden. Und „Manchmal muss man aus der Rolle fallen, um aus der Falle zu rollen.“, so zitiert Aga Trnka-Kwiecinski das bekannte Wort von Virginia Satir. „Ich bin hier, um heute etwas von Ihnen zu lernen!“, verkündet sie zum Ende ihres Impulsvortrags – und man nimmt ihr ab, dass dies mehr als eine nette Floskel ist. Für einen in der paradigmatischen Trennung von Lehrenden und Lernenden erstarrten Lehrbetrieb muss dies tatsächlich eine der versprochenen Provokationen sein.
Als Nächstes kommt Harald Lesch auf die Bühne, bekannt als Astrophysiker, Astronom, Philosoph, Journalist, Autor und Fernsehmoderator. Er zelebriert mit „42 – Das Abendland und die Algorithmen“ sozusagen den Untergang eben dieses Abendlandes. Und das Erschreckende daran ist, dass er mit vielem, eigentlich dem meisten, was er sagt, vermutlich Recht hat. Der Inhalt des Vortrags muss aufwecken, aufrütteln. Vielleicht auch gerade deshalb, weil eigentlich alles bekannt ist oder zumindest bekannt sein könnte und der Zuhörer bei kritischer Selbstbetrachtung feststellt, wie viele Fakten mensch durchaus gerne verdrängt. Laut Lesch habe Bildung mit Ökonomie, Geld, etc., nichts zu tun. Denn: Ausbildung sei ökonomisch, Bildung bedeute Lebensorientierung – eine bedenkenswerte begriffliche Differenzierung. Anschließend kommt Lesch zum im Vortragstitel angekündigten Thema „Algorithmen“, und damit zum aktuell weltbewegenden Thema „Digitalisierung“. Verstehen wir die Digitalisierung? Nach Lesch letztlich nicht. Und wichtig zu verstehen sei, dass Algorithmen nur Korrelationen, aber keine kausalen Zusammenhänge erkennen und herausfinden können. Eines der größten Probleme der Digitalisierung bestehe aber im (gerne verdrängten) Energieumsatz (mit zugehöriger Klima-Problematik aufgrund der erforderlichen Kühlung) und im Rohstoffverbrauch (Cobalt, Lithium, etc.) der zugrundeliegenden Elektronik, insbesondere und vor allem auch im Hinblick auf „Zukunftsanwendungen“ wie dem autonomen Fahren. Als Ausblick spricht sich Lesch gegen die (zunehmende) Beschleunigung aus: Sein Bildungswunsch bestehe darin, sich mehr Zeit zu lassen, um „weniger besser lernen“ zu können. Fast versöhnlich schließt er mit dem Thema „Mitgefühl“: „Zusammen, das ist das Glück!“
Wie heißt es noch gleich bei Monty Python: „And Now for Something Completely Different“? Fast ein bisschen wie ein Fremdkörper wirkt die Fotojournalistin Julia Leeb mit ihrem Plädoyer „Bildersprache – zwischen Allmacht und Ohnmacht“ auf dieser Konferenz – nur um im zuvor angesprochenen Humboldtschen Sinne der Irritation als Bildungsaspekt genau damit exakt hierher zu gehören. Auf den ersten Blick fast zerbrechlich wirkend, vermag Julia Leeb schon bald auf unaufdringliche Weise zu beeindrucken – und implizit Verbindung zu schaffen. Bildung verweise auf Bilder, und Bilder verbinden Fakten und Emotionen – ein schöner Brückenschlag zu Aga Trnka-Kwiecinski These, dass Bildung ohne Emotion nicht denkbar sei. Berichterstattung könne nie objektiv sein – worin Ariadne von Schirachs Forderung nach Ambiguitätskompetenz durchklingt. Es gehe um eine Bestandsaufnahme der Welt, und in diesem Sinne um die Notwendigkeit der ungeschönten Veröffentlichungen aus Krisenherden. Es gehe darum, möglichst authentisch die Menschen zu Wort kommen lassen, wo normalerweise Journalismus aufhört. In mehreren Ländern habe sie Einreiseverbot, und es ist bemerkenswert, wie sie dies gleichzeitig emotional und doch ohne Vorwurf sagt. Steht Julia Leeb, so fragen wir uns, möglicherweise als lebendiges Beispiel für die von Julian Nida-Rümelin eingeforderte humane Bildung des ganzen Menschen, für die Schärfung der menschlichen Urteilskraft, für die Kohärenz seiner emotiven und kognitiven, ästhetischen und ethischen Erfahrungen und Einstellungen?
Eine letzte „Energiewende“ auf der Bühne – Richard David Precht spricht über „Jäger, Hirten, Kritiker“. Das klingt schon vom Titel her wie ein evolutionärer Ansatz mit zweifelhaftem Ausgang, und sofort folgt eine Konkretisierung: Bisher habe die Technologie das Überleben gesichert und die Kultur das Zusammenleben vermittelt; heute bestimme die Technik auch das Zusammenleben, die Kultur werde mehr und mehr durch Technologie ersetzt. Wer oder was sichert aber nun das Überleben? Bisher habe sich der Mensch als „das andere“ gegenüber der Natur inklusive Tieren und Pflanzen sehen dürfen. Heutzutage sehe sich der Mensch zunehmend zusammen mit Tieren und Pflanzen als „das andere“ gegenüber einer immer „intelligenter“ werdenden Technologie. Bereits in den Schulen werde mehr Technologie und insbesondere Digitalisierung gefordert – was per se nicht schlecht sei, müsse Schule ja auch lehren, mit den neuen Medien umgehen zu können. Was aber bedeutet dann „Aufklärung 2.0“? Wie werden die Schüler zu selbstständigen und urteilsfähigen Individuen – zu Menschen in einem humanistischen Sinn? Vier Punkte benennt Precht, die den Menschen von Maschinenintelligenz unterscheiden:
- Er ist im Unterschied, wenn nicht Gegensatz zu dieser ein emotionales Wesen.
- Er weist eine Fiktionsbedürftigkeit auf (die durch reine Tatsachen und Fakten nicht zu befriedigen ist).
- Er besitzt Ichhaftigkeit, ist ein ichhaftes Wesen.
- Er besitzt Moralfähigkeit, dadurch, dass er sich als Verursacher seiner eigenen Taten erkennen kann.
Gefördert werden müsse die die Fähigkeit, mit der technologischen Welt kreativ umzugehen. Dies erfordere aber eine andere Kreativität als eine rein mathematische bzw. lösungsorientierte – diese sei nur Teil einer viel umfassenderen Kreativität. Es gehe nicht um reduktionistische naturwissenschaftliche Ansätze, sondern um erweiternde humanistisch-geisteswissenschaftliche Herangehensweisen: Es gehe um eine Kunst des Lebens, die vor allem auch Akzeptanz umfasse statt nur Problemlösungskompetenz. Philosophie entziehe sich dem (reduktionistischen) Schema von „Problem und Lösung“. “Das Beste passiere nebenbei“, also nicht unbedingt im Klassenzimmer, sondern z. B. auf dem Schulhof. Letztlich ginge es gar nicht um den „Lehrstoff“ – Aufgabe der Schule und des Bildungswesens sei es, die „faszinierende Welt“ erfahrbar zu machen.
Ein schönes Schlusswort, das wir gern im Dialog vertieft hätten. Dies bleibt für uns als eine unerfüllte Erwartung an diese Bildungskonferenz zurück: Wir hätten uns mehr Dialogmöglichkeiten gewünscht, sei es als Dialog mit dem Publikum und /oder als freie Podiumsdiskussion zwischen den Referenten. Eine solcher Dialog der Referenten hätte vielleicht einen „Energieaustausch“ ermöglicht, der die Beiträge nicht nur nebeneinanderstehen lässt, sondern aufeinander bezieht, woraus neue Erkenntnisse entstehen könnten. Ohne solch eine vertiefende Mitwirkung können die wertvollen Ansätze, wie sie die Konferenz bietet, nur als neue Informationen verstanden werden, die dann in kürzester Zeit verpuffen. Das ist sehr schade, denn das Anliegen der Konferenz hätte eine weite soziale Wirksamkeit verdient.
GLÜCK. Ein Workshop mit Nina Schmid im Rahmen der Glück.Tage Kufsteiner Land.
Mehr zum Thema in evolve 14: LEBEN LERNEN – Bildung und die Entwicklung unserer Seele