In der Ausgabe 07 von evolve mit dem Titel “Die Zukunft in uns – Gesellschaft im Umbruch” beschäftigen wir uns mit Visionen und konkreten Handlungsoptionen für soziale Transformation. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch mir Stefan Bergheim, dem Direktor der Denkfabrik „Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt“.
Gut leben
Wie Visionen zu Tat-Sachen werden
Stefan Bergheim arbeitet mit seiner Denkfabrik an der Umsetzung von Lebensqualitätsprozessen. Im evolve-Interview zeigt er, wie sich im komplexen Geflecht von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Visionen für ein besseres Leben entwickeln und umsetzen lassen.
evolve: Sie haben 2011/2012 als Leiter der Arbeitsgruppe Wohlstand, Lebensqualität und Fortschritt im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin mitgewirkt. In welchen Feldern sehen Sie den größten Handlungsbedarf für soziale Transformation?
Stefan Bergheim: Die größten Herausforderungen liegen darin, die verschiedenen Spezialdisziplinen miteinander zu verbinden. Diese Verknüpfung sollte Themenfelder aber auch Institutionen betreffen, damit Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft anders und intensiver miteinander arbeiten können. Der Zukunftsdialog war darauf angelegt, solche Querverbindungen herzustellen. Das wurde von der Bundeskanzlerin und ihrem Stab auch explizit als Ziel formuliert.
In meiner Arbeitsgruppe gab es dazu einen Aha-Moment. Ein Kollege, der aus dem Umweltbereich kommt, hat immer wieder auf die Wichtigkeit der Umweltthemen hingewiesen. Ein anderer, der sich mit sozialen Fragen beschäftigt, hat immer wieder die sozialen Themen hochgehalten. In unseren Gesprächen wurde uns allen dann aber klar, dass soziale Themen ganz oft auch Umweltthemen sind und andersherum. Wenn ich also das eine Thema angehe, muss ich das andere auch im Blick haben. Aus diesem Aha-Moment ist in unserer Zusammenarbeit dann auch ein gemeinsamer Spirit entstanden.
Ein anderer Aspekt ist die Frage, wie wir am besten solche gesellschaftlichen Herausforderungen angehen. Viele argumentieren, dass man einfach nur die besten Experten zusammenholen müsste. Die schreiben ein Gutachten, das Lösungen vorschlägt. Das Gutachten wird dann einem Entscheider übergeben, der die Umsetzung in die Wege leitet. Dieser Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen ist besonders in unserer Ingenieurs-Kultur weit verbreitet, weil wir gerne in komplizierten Systemen denken. Die Gesellschaft wird dann wie ein Automotor behandelt, an dem man nur einige Einstellungen verändern muss, damit er besser läuft. Sie ist aber kein komplizierter Automotor, sondern ein komplexes Geflecht von Akteuren.
In meiner Arbeitsgruppe habe ich vorgeschlagen, dass wir Räume schaffen sollten, wo die Vernetzung und Verknüpfung verschiedener Disziplinen stattfinden könnte. So würde eine interdisziplinäre Arbeit möglich, quer über die Fachbereiche und Themenfelder hinweg. Aber diese Arbeitsweise fanden einige Kollegen, die den bisherigen Umgang mit solchen Fragen gewohnt sind, nicht so attraktiv. Viele sind in diesen alten Strukturen großgeworden oder möchten darin noch großwerden. Gegen mein Minderheitsvotum stand das Mehrheitsvotum fast aller anderen Mitglieder der Arbeitsgruppe, die sich für einen Sachverständigenrat „Lebensqualität“ aussprachen.
e: Sehen Sie Ansätze für Veränderungen dieser alten Struktur?
SB: Das geht sicher nur in kleinen Schritten – aber es geht. Ich arbeite nun seit sieben Jahren mit dem Kanzleramt. 2008 begann ein Zukunftsprozess, der nur in einem kleinen Kreis von Experten stattfand. Daraus entwickelte sich der größere Zukunftsdialog 2011/2012 im Sinne einer interdisziplinären Öffnung. Damals konnten aber die Bundesministerien noch nicht einbezogen werden, was ein Schwachpunkt des Projektes war. Aber die Institutionen waren damals einfach noch nicht soweit. Wenn man versucht hätte, sie einzubinden, dann wäre wahrscheinlich dieser Prozess gar nicht möglich gewesen. In der neuen Regierungsstrategie „Gut leben in Deutschland“ sind nun auch alle Bundesministerien vertreten. Wenn man weiß, wie oft in Regierungsinstitutionen und großen Unternehmen gearbeitet wird, ist dies eine echte Innovation.
e: Zeigt sich in der Arbeit jetzt auch ein neuer Spirit?
SB: Die Regierungsinitiative „Gut leben“ setzt direkter bei den Bedürfnissen der Menschen an. Den Bürgern werden zwei Fragen gestellt: Was ist Ihnen persönlich wichtig im Leben? Was macht Ihrer Meinung nach Lebensqualität in Deutschland aus? Wenn es Bereiche gibt, wo Unzufriedenheit feststellbar ist, muss man Handlungsoptionen prüfen. Von staatlicher Seite besteht dann aber die Gefahr, dass sich die Politik oft selbst genug ist oder Probleme allein mit politischen Mitteln zu lösen versucht. Es ist immer noch eine Herausforderung, die vielen Akteure außerhalb der Politik im Blick zu haben, mit denen gemeinsam ein Thema bearbeitet werden kann.
e: Mit Ihrem Projekt „Schöne Aussichten – Forum für Frankfurt“ versuchen sie explizit, die Zivilgesellschaft einzubinden und das Handeln vor Ort zu fördern. Wie funktioniert das und was wird dadurch möglich?
SB: Wir haben seit 2013 zahlreiche Veranstaltungen gemacht, um die Frankfurter nach ihren Visionen für ein gutes Leben in der Stadt zu befragen. Dabei haben wir ganz bewusst auch den Kontakt zu Menschen gesucht, die sich sonst eher nicht an solchen Prozessen beteiligen. Wir waren beispielsweise in einem islamischen Kulturverein, in der Bahnhofsmission, in einem Jugendklub, einem Altenheim … Dabei hat sich gezeigt, dass Bildung und Umweltschutz zu den zentralen Anliegen der Bevölkerung zählen. Ein weiteres Thema, das viele Menschen beschäftigt, ist das alltägliche Zusammenleben in der Stadt, das Schaffen sozialer Räume, in denen man sich begegnen kann.
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist es dabei, unterschiedliche Interessengruppen zusammenzubringen. Hier in der Region gibt es viele Unternehmen, die sich noch stärker engagieren möchten, und soziale und politische Organisationen, die aktiv sind. Doch die Realität zeigt, dass diese Akteure häufig nicht direkt zueinander finden. Mit „Schöne Aussichten“ versuchen wir auch, zwischen diesen Akteuren zu vermitteln, Ideen weiter zu tragen, Resonanzräume zu schaffen. Wir sind in einer Phase, in der es noch viele Brückenbauer braucht, die erst einmal Beziehungen herstellen. Es geht darum, jeweils den nächstmöglichen Schritt zu erkennen und dabei eine größere Perspektive im Blick zu behalten.
Für Frankfurt sind wir nun dabei, drei konkrete Projekte in den Feldern Zusammenleben und Umwelt umzusetzen. Da Frankfurt eine Stadt ist, die sich durch eine besondere kulturelle Vielfalt auszeichnet, werden wir „Weltreisen durch Wohnzimmer“, anbieten, eine Idee, die in Nordrhein-Westfalen entwickelt und dort schon erfolgreich umgesetzt wurde. „Reiseleiter“, die nicht in Deutschland geboren sind, laden Menschen für ein paar Stunden zu sich nach Hause ein und erzählen von ihrer Heimat und ihrer Kultur. Mit Nachbarfesten haben die Anwohner die Möglichkeit, die persönlichen Kontakte in ihrem direkten Lebensumfeld zu intensivieren. Auch sind wir dabei, Repair Cafés ins Leben zu rufen, wobei wir hier nicht nur den ökologischen Aspekt im Blick haben, sondern auch den sozialen. Gemeinsam mit der Caritas haben wir zum Beispiel in einem Stadtteilzentrum ein Näh-Café ins Leben gerufen, das nicht nur ein Ort für gemeinsame Kreativität ist, sondern auch neue Kommunikationsräume schafft. Hier finden jetzt unterschiedliche Generationen wie von selbst zusammen.
Unser Fokus liegt bei „Schöne Aussichten“ ganz klar darauf, zivilgesellschaftliche Initiativen zu fördern, damit die Menschen selbst aktiv werden können. Aber auch Politik und Wirtschaft haben natürlich eine große Verantwortung. Visionen können nur dann wirksam werden, wenn sie positiv und konkret formuliert sind und gemeinschaftlich geteilt, also nicht von oben herab bestimmt werden. Und wir wollen das Bedürfnis wecken, auch etwas dafür zu tun.
Das Gespräch führte Nadja Rosmann.
Dr. Stefan Bergheim ist Direktor der 2009 gegründeten gemeinnützigen Denkfabrik „Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt“ in Frankfurt am Main, wo er mit einem großen Netzwerk engagierter Menschen neue Wege und Methoden erarbeitet, wie die Lebensqualität der Menschen in Deutschland verbessert werden kann. Der Volkswirt begleitet die Regierungsstrategie „Gut leben in Deutschland“ im wissenschaftlichen Beirat. Stefan Bergheim ist einer der Sprecher auf dem Forever Now Festival in Berlin, vom 3. bis 6. September.
www.fortschrittszentrum.de; www.schoeneaussichtenffm.de
Ein Radio evolve Gespräch mit Stefan Bergheim.
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